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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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wollte. In diesem Fall würde Batzko Geralds Abwesenheit in der Dienstbesprechung nutzen, um sich selbst zu positionieren.
    Aber Gerald war zu müde, um Einwände zu erheben. Außerdem wollte er zu Franziska.
    Es war kurz nach halb sechs, als er seinen Wagen am Pariser Platz parkte, in Sichtweite von Franziskas Hauseingang. Beim Aussteigen wäre er beinahe in eine weggeworfene Pizzaschachtel getreten. Der Bürgersteig war bestückt mit Abfällen, größtenteils Fast-Food-Verpackungen und Bierflaschen.
    Franziska war nicht zu Hause. Gerald klingelte mehrmals, überlegte, ob er einen Zettel an die Haustür klemmen oder einfach in seinem Wagen auf sie warten sollte. Er entschied sich für Letzteres, brachte den Fahrersitz in eine bequemere Position und legte eine CD mit ruhigen Jazz-Balladen ein. Als er seine Hände kurz auf sein Gesicht legte, glaubte er, Franziskas Geruch zu spüren. Er war ganz anders als der von Nele. Es war überhaupt alles anders gewesen als mit Nele. Bei ihr war es nach dem heißen Flirt in Barcelona zunächst ein erotisches Spiel gewesen, eine Verführung, ein Abtasten, ein Ausloten nach Möglichkeiten und den Erwartungen des anderen, als müssten sie sich beinahe dafür entschuldigen, auf der Suche zu sein nach dem Partner fürs Leben und dem Wunsch, eine Familie zu gründen. Als wollten sie beide ergründen, ob ihre Affäre nach der Leichtigkeit unter Barcelonas Himmel auch das Grau ihres Alltags aushalten würde.
    Gerald hörte das kraftvolle, voluminöse Saxophon von Sonny Rollins, wie es »Round Midnight« intonierte, und schloss die Augen. Bei Franziska hatten sich an einem einzigen Abend alle Schleusen geöffnet. Sie wusste Dinge von ihm, die Nele nicht einmal im Ansatz kannte. Auch ihre Körper schienen so vertraut miteinander, als hätten sie schon oft miteinander geschlafen. Alles passierte so leicht und selbstverständlich. In seinem Leben hatte er nur wenige Nächte erlebt, die von dem Gefühl getragen worden waren, dass alles, was er tun würde, richtig, und das alles, was geschehen würde, gut sein würde.
    Dann dachte er an Franziskas Erkrankung und presste die Kiefer aufeinander, weil er spürte, dass sich erste Tränen hinter seinen Lidern stauten. Wie konnte sich eine junge, intelligente, gesunde Frau eine Unterschenkelamputation wünschen? Er konnte sich das nicht vorstellen, auch nach ihren Erklärungen nicht. Die Krankheit war für ihn so weit entfernt wie der Mond. Dabei hatte Franziska die Operation in ihrem Kopf eigentlich schon vollzogen, es ging nur noch um die praktischen Schritte und die Finanzierung, bei der er, ausgerechnet er, ihr helfen sollte.
    Gerald drehte die Musik etwas lauter, um seine Gedanken zu vertreiben, und schlief nach wenigen Minuten ein.
    Drei Stunden später wachte er auf und schlug vor Wut auf das Lenkrad. Wie hatte ihm das passieren können? Er rieb sich die Augen. Trotz der noch hohen Außentemperatur fror er. Der Schlafrückstand. Nach seiner Rückkehr von Franziska, im Morgengrauen, hatte er lange wach gelegen. Dann hatte Sevi geschrien. Nele hatte ihn nicht, wie üblich, sofort ins Bad getragen, um ihn, Gerald nicht zu stören, sondern sie hatte ihn brüllen lassen und anschließend im Bett gestillt. Natürlich, dachte er, damit straft sie mich ab.
    Sein Mund war trocken. Er trank einige Schlucke aus einer Wasserflasche, die seit Wochen im Handschuhfach gelegen hatte, und verließ dann den Wagen.
    Die Haustür sprang nach dem zweiten Klingeln auf. Langsam stieg er die Treppen hoch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie von Arnos Ermordung vermutlich noch keine Ahnung haben würde. Das wird der zweite Schock sein, dachte er, und tastete nach seinem Dienstausweis. Sie stand im Türrahmen, und wie am Vorabend wich sie instinktiv zurück, als er näher kam.
    »Gerald, was ist los? Ist etwas passiert? Du siehst schrecklich aus.«
    Er hatte sich vorgestellt, sie würde ihn küssen, wenn er die letzte Stufe erreicht hatte, oder wenigstens umarmen. Aber nichts dergleichen passierte. »Gerald – ist etwas mit deiner Familie? Sag schon. Du machst mir Angst!«
    »Ich muss mit dir reden. Lass uns reingehen. Es ist wichtig.«
    Es fiel ihm ungemein schwer, vor ihr zu stehen, ohne sie zu berühren. Wie sehr hatte er sich auf sie gefreut. Und nun war er wegen einer dienstlichen Angelegenheit bei ihr. Einer, die sie gleich zutiefst treffen würde. Er musste schlucken und lief, ohne ihr in die Augen zu schauen, an ihr vorbei ins Wohnzimmer und setzte sich

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