Die Narbe
Arno eigentlich?«
»Arno …« Ihre Stimme kam von sehr weit her, als würde sie sich erst in diesem Moment daran erinnern, dass er an diesem Vormittag ermordet worden war. »Gut. Sehr gut. Er war ein Freund, ein guter Freund. Arno war außergewöhnlich sensibel und absolut vertrauenswürdig. Aber es gab nicht diese persönliche Nähe wie zu Alexander. Wir hatten nicht dieses ›Pretending‹.«
»Was meinst du mit ›Pretending‹?»
»Das künstliche Herstellen einer Situation, die man sich wünscht. Alexander und ich haben uns zum Beispiel den Arm und den Unterschenkel abgebunden und haben so ein ganzes Wochenende gemeinsam verbracht. Manche BIID-Patienten ziehen sich sogar in einen Kurzurlaub zurück, um das durchzuspielen. Ob Arno das jemals getan hat, kann ich dir nicht sagen. Wir haben jedenfalls nie darüber gesprochen. Intuitiv würde ich sagen: nein. Zwar hat er seine Erkrankung die ganze Zeit über seiner Frau verschwiegen, dennoch glaube ich nicht, dass er sie angelogen oder hinter ihrem Rücken so etwas unternommen hätte.«
»Kanntest du sein berufliches und privates Umfeld? Seine Frau?«
Sie streckte die rechte Hand aus, als wollte sie nach dem Ausweis greifen, stoppte aber die Bewegung. »Nein. Das heißt, nur aus seinen Erzählungen, wenn wir uns nach den Therapiestunden mit Alexander auf ein Bier zusammengesetzt haben. Ich wusste, dass er sich gerade selbständig gemacht hatte. Auch dass seine Frau dringend eine Familie gründen wollte. Das hat ihn sehr unter Druck gesetzt, weil er nicht wusste, wie er diese drei Dinge zur selben Zeit überhaupt bewältigen konnte: die Firma, die ersehnte Operation, ihr drängender Kinderwunsch.«
»Habe ich das in der letzten Sitzung richtig verstanden – dass er es seiner Frau endlich erzählt hat?«
»Ja. Er hatte mich in der letzten Woche sogar zweimal deswegen angerufen, und ich hatte ihm Mut gemacht, trotz des Zeitpunktes und der möglichen Folgen für seine Ehe. Warum fragst du?«
»Reine Ermittlungsroutine«, sagte er knapp und staunte selbst ein wenig über seinen dienstlichen Tonfall. »Du bist also sicher: Er hat es seiner Frau erzählt. Aber das basiert allein auf seiner Behauptung dir gegenüber, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Gut. Hat er in euren Gesprächen irgendetwas geäußert, was als Anhaltspunkt für die Ermittlungen dienen könnte? Hat er sich bedroht gefühlt? Gab es finanzielle Auseinandersetzungen mit seinem Kreditgeber? Hatte er Ärger mit möglichen Konkurrenten? Familiäre oder private Konflikte?«
Sie schüttelte knapp den Kopf, trank einen Schluck Whiskey und setzte sich wieder auf den Rand des Sofas. Ihre Haltung war inzwischen etwas entspannter, aber der Abstand zu Gerald hatte um keinen Millimeter abgenommen.
»Da ist noch eine Sache, zu der ich dich befragen wollte. Es gibt doch sicher im Internet eine Art Forum für BIID-Patienten, oder? Als ich den Begriff gegoogelt habe, bin ich zumindest auf so etwas gestoßen.«
»Ja. Wir sind … das heißt, wir waren dort auch Mitglieder. Aber durch die Gesprächstherapie haben wir allmählich das Interesse verloren. Es war sehr gut am Anfang, es hat uns zusammengebracht. Alexander hatte in dem Forum von seinen guten Erfahrungen mit Chateaux berichtet, und Arno und ich sind bei ihm eingestiegen, ohne uns vorher persönlich gekannt zu haben.«
»Also Werbung für Chateaux! Er scheint sich auf diese Behandlungen inklusive einer, sagen wir, noch genauer zu betrachtenden Weitervermittlung an Chirurgen im Ausland spezialisiert zu haben.«
»Du unterstellst ihm Dinge, von denen du zu wenig weißt«, sagte Franziska mit einem Unterton, der Gerald riet, diesen Aspekt hier und jetzt nicht zu vertiefen.
»Zurück zu diesem Forum. Gibt es gelegentlich Einträge von Leuten, die aggressiv reagieren, euch beschimpfen, vielleicht sogar bedrohen?«
»Es ist ein paar Mal passiert, dass sich jemand, um überhaupt zugelassen zu werden, als BIID-Patient tarnte, um dann seine Hasstiraden loszuwerden. Aber der Supervisor sorgte rasch dafür, dass ihm der Zugang gesperrt wurde. Außerdem hatten wir drei uns nur mit Codenamen vorgestellt, ohne Adresse oder nähere persönliche Angaben. Ich glaube, dass die meisten Mitglieder nur solche Informationen preisgeben, die keine direkten Rückschlüsse auf ihre Person zulassen. Meine Güte – du denkst doch nicht etwa an einen durchgeknallten Serientäter oder so etwas?«
»Nein, nein«, sagte er schnell, obwohl er diese Möglichkeit natürlich in Betracht
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