Die Narbe
tun haben.«
»Geht das wirklich? Meinen Sie?« Die Erleichterung, die Rückfahrt nicht selbst organisieren zu müssen, belebte für einen Moment die müden Augen. »Ich frage nur kurz meine Frau. Ich selbst kann einfach noch nichts einpacken. Das geht über meine Kräfte.«
Als er aufstand, schien er um zwei Jahrzehnte gealtert. Er schlurfte mehr, als dass er ging, den Kopf tief gesenkt. Gerald konnte nicht verstehen, was Herr Faden zu seiner Frau sagte – auch deshalb nicht, weil es von den Quietschgeräuschen überlagert wurde. Die Frau hörte auch während des Dialogs nicht auf zu putzen.
Gerald stand schließlich auf, und die beiden Männer trafen sich im Flur. »Wenn Sie uns noch ein paar Minuten geben könnten. Meine Frau will ein paar persönliche Dinge von Alexander einpacken.«
»Ich warte unten im Wagen auf Sie. Es ist ein weißer Golf, er steht direkt vor dem Haus.«
Herr Faden nickte und legte seine Hand kaum spürbar unter Geralds Ellbogen. Gerald konnte seinen Atem spüren, der nach Pfefferminze roch. Herr Faden dirigierte ihn vor die Wohnungstür und zog sie von außen zu.
»Sie dürfen es nie meiner Frau erzählen, versprechen Sie mir das?«, flüsterte er und bohrte seinen Blick in Geralds Augen. »Das würde sie niemals verkraften.« Er holte tief Luft, bevor er mit leiser, verschwörerischer Stimme fortfuhr: »Ich glaube, dass der Alexander … also, dass mein Sohn … dass er homosexuell war. Aber er hat sich nicht dazu bekennen können, glaube ich. Das war die Last, die immer so auf ihm gelegen hat. Die war letztlich größer als er. Ich hatte gehofft, hier, in einem anonymen Umfeld, könnte er es schaffen. Er musste doch keine Angst haben, vor seinen Eltern nicht, vor niemandem. Aber er hat es nicht geschafft, nur der Himmel weiß, warum nicht. Aber kein Wort zu meiner Frau, bitte. Ich verlasse mich auf Sie!«
Gerald nickte und ging langsam die Treppe hinunter. Im Auto rief er von seinem Handy aus Batzko an und sagte, dass er Alexanders Eltern nach Hause fahren werde.
»Erhoffst du dir neue Erkenntnisse oder spielst du Heilsarmee?«
»Ich fahre, um dich zwei Stunden weniger ertragen zu müssen. Hast du schon Kontakt mit Steinhaus aufgenommen?«
»Er kommt gegen fünf ins Präsidium, schließlich brauchen wir seine Fingerabdrücke. Ich werde gleich den Staatsanwalt anrufen, um Konteneinsicht für Apanatschi zu beantragen. Ich bin extrem gespannt darauf, wie er mit seinen Einnahmen als Vermittler an die Metzger im Ausland umgegangen ist.«
»Ist der Bericht von der Spurensicherung schon da?«
»Soll heute noch kommen.«
»Okay. Da kommen Alexander Fadens Eltern. Wir sehen uns später im Büro.«
»Man dreht den Zündschlüssel nach rechts, um den Wagen zu starten. Der erste Gang ist oben links«, spottete Batzko und legte auf.
Alexander Fadens Vater stieg vorne ein. Gerald warf einen Blick in den Rückspiegel. Alexanders Mutter trug einen grauen Haushaltskittel, der im bizarren Kontrast stand zu einer großen Altmänner-Sonnenbrille. Sie gehörte wohl ihrem Mann, der sie ihr geliehen hatte, damit sie ihre verheulten Augen verbergen konnte. Die überproportionale Brille verstärkte den Eindruck des Verschlossenen, Verkniffenen in ihrem Gesicht. Um ihre Mundwinkel lagen tiefe Falten.
»Es ist sehr nett, dass Sie uns diese Freundlichkeit erweisen«, sagte Alexander Fadens Vater, während sie am Olympiapark vorbeifuhren.
Gerald kurbelte das Seitenfenster etwas herunter. Es war weniger die Hitze, die sich in dem Wagen angestaut hatte und die Gerald zu schaffen machte, als vielmehr das Bedrückende, das von Alexanders Mutter ausging. Sie blickte starr auf die Straße, die Hände ineinander verkrampft. Sicher würde sie diese Position auch konsequent beibehalten, wenn wir einmal den Äquator umkreisen würden, dachte er.
»Kennen Sie Dachau eigentlich?«, fragte Alexanders Vater. »Ich meine, abgesehen von der Gedenkstätte?«
»Nein. Ich glaube nicht. Es ist ja außerhalb meines Dienstbezirks, und privat war ich dort noch nie.«
Während der Fahrt erzählte Alexander Fadens Vater nahezu ohne Unterbrechung von seiner Heimatstadt. Er übergoss Gerald mit seinem Wissen wie ein Reiseführer eine Touristengruppe. Gerald nickte lediglich bestätigend oder antwortete einsilbig. Als hätte er Angst, dachte er, dass ich ihn etwas über seinen Sohn fragen könnte.
Er schaute in den Rückspiegel, aber Alexanders Mutter saß, zu einer Schaufensterpuppe erstarrt, in unveränderter Position.
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