Die Narbe
Neben ihr auf der Rückbank erkannte Gerald die Aktentasche des Studenten, in der sich wohl die amtlichen Unterlagen befanden, mit denen ein Ableben bürokratisch besiegelt werden musste.
»Wir wohnen im Osten von Dachau«, sagte Herr Faden. »Gleich hinter dem Kanal biegen Sie rechts ab, Herr Kommissar, dann die nächste wieder rechts, danach die zweite links, und dann sind wir auch schon da.«
Gerald folgte den Anweisungen, bis Herr Faden auf ein Haus auf der rechten Seite zeigte.
»Da wären wir. Eigentlich darf man hier nicht halten, aber Ihnen verpasst man sicher kein Knöllchen, oder?« Herr Faden versuchte ein Lächeln, das sofort wieder erstarb. Seine Mimik zeigte die ganze Anspannung eines Menschen, der nicht in haltloses Weinen ausbrechen wollte. Gerald reichte ihm die Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Herr Faden nickte stumm, presste die Lippen zusammen und stieg aus dem Wagen. Es waren nur wenige Schritte bis zur Haustür, wo er stehen blieb und nach seinem Schlüssel suchte. Plötzlich fühlte Gerald eine Hand, hart wie eine Kralle, an seiner Schulter.
»Ich war so lange im Bad«, sagte sie mit einer Stimme, die in Geralds Ohren scharf und mitleidslos klang. Vielleicht kam es ihm auch nur so vor, weil die Frau bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. »Ich habe alles genau angeguckt, aber da war nichts. Solche haben doch immer was, irgendwelche besonderen Cremes und diese Sachen.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte er. Seine Schultern schmerzten unter Frau Fadens festem Griff.
Sie schaute kurz zu ihrem Mann, der in diesem Moment die Tür öffnete, sich aber noch nicht umgedreht hatte.
»Der Alexander war nicht wie wir, wie Sie und ich. Eine Mutter spürt das, von Anfang an. Da war was seltsam mit ihm. Ich kann das nicht erklären. Irgendwie war er so verstockt. Mein Alex, der muss vom anderen Ufer gewesen sein, und das hat ihn kaputtgemacht, oder ein Mann hat ihn kaputtgemacht, irgendwie. Die meisten sind doch so sensibel, Künstler eben, wie Alexander. Das darf nur sein Vater niemals erfahren. Niemals. Sonst habe ich zwei, die an was kaputtgehen.«
Sie krallte ihre Fingerkuppen tief in Geralds Schulter. Dann griff sie die Aktentasche und verließ, ohne ein weiteres Wort, den Wagen. Ihr Mann wartete vor der Haustür.
Es war gewiss nicht leicht, sich so nahe an der Hauptstraße zu verfahren. Aber Gerald kurvte tatsächlich orientierungslos durch die Anliegerstraßen und fand erst nach endlosen Minuten zur Bundesstraße zurück. Er öffnete das Seitenfenster, als könne der Fahrtwind die Niedergeschlagenheit vertreiben, die sich in seinem Kopf eingenistet hatte. Die Einsamkeit in der Familie Faden – jeder schuf sich sein eigenes Gefängnis aus Schweigen und Scham –, deren Mauern so dick waren, dass nicht einmal Alexanders Operation etwas geändert hatte. Welche Erklärung wird er seinen Eltern für die Operation gegeben haben? Warum hatten sie sie Gerald gegenüber nicht einmal erwähnt? Waren sie so sehr in ihren eigenen Deutungen gefangen, dass sie diesen gravierenden Einschnitt nicht einmal in ihre Überlegungen einbezogen hatten?
Gerald schloss das Fenster wieder. Es war ein warmer Tag, unter klarem Himmel, aber nicht so heiß wie in der vergangenen Woche. Als er sich München näherte, beschloss er spontan, zuhause eine Pause einzulegen. Er hatte noch Zeit, bis Steinhaus eintreffen würde. Außerdem lag es auf dem Weg. Aber der eigentliche Grund, das wurde ihm nun deutlich, war ein Schuldgefühl, das sich seiner bemächtigte.
Er überlegte, ob er sich ankündigen sollte. Als er am vorigen Abend ins Bett gekrochen war, hatte er Neles Atem gespürt. Sie hatte am äußersten Rand ihrer Seite der Matratze gelegen, gleichmäßig und tief geatmet; dennoch hatte er keine Sekunde gezweifelt, dass sie sich nur schlafend stellte. Er hatte sich im Badezimmer gründlich gewaschen, weil er befürchtete, sie könnte einen fremden Geruch an ihm bemerken. Am nächsten Morgen waren sie sich in der Küche und im Flur begegnet, aber sie hatten kein Wort miteinander gesprochen, sie hatten sich nicht einmal mehr darauf verständigt, wie sie den Tag organisieren sollten. So eine Sprachlosigkeit hatte zuvor noch nie zwischen ihnen geherrscht.
Er hatte das Handy bereits in der Hand, als ihm einfiel, dass Severin um diese Zeit bestimmt schon schlafen würde. Also kein Anruf. Gerald hielt an einer Bäckerei entlang der Bundesstraße, aß im Stehen eine belegte Semmel und überlegte, ob er zwei
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