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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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Stücke Kuchen mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen, weil Nele es vielleicht als Provokation auffassen könnte. Sie hatte vor der Geburt ihren gesunden Appetit durch regelmäßigen Sport ausgeglichen. Nun fühlte sie sich zu müde, um auch nur den Trainingsanzug aus dem Schrank zu holen, und er hatte aufgegeben, ihr zu beteuern, dass ihm die Auskunft der Waage ziemlich gleichgültig war. Sie glaubte ihm nicht, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass er anders auf sie blickte als sie auf sich selbst.
    Sie stand in der Küche, als er die Wohnung betrat. Severin lag in seinem blau-weißen Strampler in der Babywippe auf dem Küchentisch, die Augen geschlossen. Es war also doch gut, dass ich nicht angerufen habe, dachte er.
    Nele schaute überrascht, sagte aber nichts. Sie war dabei, sich einen Tee zuzubereiten. Er nickte ihr zu, versuchte ein Lächeln und war in diesem Moment froh, dass Severins Schlaf ihm die Möglichkeit gab zu schweigen. Gerald war sich der Probleme, die sie seit der Geburt ihres Sohnes hatten, erst seit der Therapie wirklich bewusst geworden. Und trotzdem wusste er nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sobald er Nele sah, hatte er einen riesigen Frosch im Hals und bekam keinen Ton heraus.
    Er stellte eine zweite Tasse neben ihre, hängte einen Beutel mit Vanilletee hinein und kontrollierte, ob das Wasser im Wasserkocher für zwei Tassen ausreichen würde. Als er sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte lehnte, berührte er Nele leicht an der Schulter, doch sie reagierte nicht, sondern setzte sich wortlos an den Küchentisch.
    Gerald blieb zunächst stehen; als das Wasser sprudelte, füllte er die beiden Tassen, stellte sie auf den Tisch und setzte sich Nele gegenüber. Sie nahm das Glas Honig, das neben den Gewürzen am anderen Ende des Tisches stand, und verrührte einen Teelöffel davon in seinem Becher. Die Geste rührte ihn, dennoch fühlte er sich unwohl. Severin atmete ruhig und gleichmäßig.
    Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Sollen wir den Tee im Schlafzimmer trinken?«
    Sie schüttelte den Kopf, schaute ihn fragend an.
    »Im Wohnzimmer?«
    »Nein«, sagte sie leise, aber bestimmt.
    Gerald versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen. Nele ahnte zwar, dass er eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Sie wusste aber nicht, was es für ihn bedeutete, ob diese Frau eine ernsthafte Konkurrentin für sie war und wann die Affäre begonnen hatte. Ihm war klar, dass es sie an jenem Abend zutiefst gekränkt haben musste, als sie plötzlich Franziskas Stimme im Ohr hatte, wenngleich Gerald Nele zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht mit Franziska betrogen hatte. Nun wartete sie vermutlich auf eine Erklärung, eine Entschuldigung, ein Geständnis, das Gerald ihr nicht wirklich geben konnte, wusste er doch selbst nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Dennoch sagte er:
    »Es ist nicht das, was du vielleicht denkst.«
    Nele reagierte zunächst nicht. Sie verrührte den Honig in ihrer eigenen Tasse und schüttelte dann kaum merklich den Kopf. Ihre Haare wirkten, obwohl sie so kurz waren, ungekämmt und leicht verschwitzt. Vermutlich hatte sie Severin für eine Weile aus dem Wagen genommen, mit ihm gespielt, ihn in die Luft geworfen oder war mit ihm ein paar Schritte gelaufen. Nele trug die kurzärmelige, blau-weiß karierte Bluse, die sie am Tag zuvor schon angezogen hatte, trotz eines Spuckfleckens am Kragen. Ihr Gesicht war unnatürlich gerötet, wie immer, wenn sie unter Stress stand.
    »Dass eine Ehe keine Fahrt auf dem Vergnügungsdampfer ist, muss mir niemand sagen. Aber dass du mir diese jämmerliche Phrase jemals auftischen würdest, hätte ich nicht gedacht«, sagte sie schließlich, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Gerald hob müde die Schultern. »Ich wollte nicht originell sein. Ich wollte nur etwas sagen, damit wenigstens einer von uns etwas sagt.«
    Er trank einen Schluck, verbrannte sich fast die Lippen. Ihm wurde bewusst, dass er nicht über Franziska reden, sie nicht einmal erwähnen wollte. In seinen Augen war Franziska nicht die Ursache seiner Eheprobleme, sondern deren Folge. Wenn er mit Nele über Franziska sprechen würde, würden sie ihre eigenen Probleme nicht erkennen und auch nicht lösen. Im Gegenteil, sagte er sich, dann hätten sie zwei riesige Problemklumpen, an denen sie ersticken würden. Also beschloss er, diese Dinge zu trennen. Vorläufig zumindest.
    Nele hielt ihre Tasse mit beiden Händen umschlossen, dann schaute sie Severin an, der

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