Die Narbe
hochhebt, über die Glasfläche wischt und ihn wieder hinsetzt. Die Frau gab sich augenscheinlich keine Mühe, das leise zu tun – als legte sie es darauf an, ihre Tätigkeit gleichsam zu Protokoll zu geben. Oder, aus welchen Gründen auch immer, das Gespräch im Nebenzimmer zu stören.
»Feinde? Setzt das nicht voraus, dass überhaupt jemand da ist?«
»Ich verstehe nicht ganz, Herr Faden.«
»Nun, da gab es niemanden in seinem Leben. Eigentlich hat es nie jemanden gegeben.« Die Stimme war voller Trauer. »Er war immer allein. Keine Freunde. Keine Freundin. Er hat sich auch niemals mit jemandem gestritten. Schon als kleiner Junge nicht. In der Schule war er bekannt für seine Karikaturen gewesen, die er von den Lehrern gezeichnet hat. Alle haben ihn gemocht, aber wirklich gekannt hat ihn kaum einer. Wussten Sie, dass er schon damals Geld mit dem Zeichnen verdient hat? Er hat nach Fotos Zeichnungen angefertigt, wenn ein Mitschüler zum Beispiel ein Geburtstagsgeschenk gebraucht hat. Aber Freunde oder später Mädchen – die gab es einfach nicht. Es schien mir immer so, als würde er eine schwere Last mit sich schleppen, über die er mit niemandem reden konnte oder wollte.«
»Haben Sie eigentlich noch weitere Kinder?«
»Es wäre sicher gut für ihn gewesen, Geschwister zu haben, aber …« Er führte den Satz nicht zu Ende.
»Haben Sie ihn oft hier in seiner Wohnung besucht? Oder fuhr er an den Wochenenden zu Ihnen nach Hause?«
»Anfangs ja, da kam er regelmäßig. Aber während sich seine ehemaligen Schulkameraden in Kneipen getroffen haben, blieb er zu Hause in seinem Jugendzimmer. Er hat gezeichnet oder im Internet gesurft. Für jemanden wie ihn war es leichter, über Internet mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, als wenige Meter weiter in einer Kneipe seine Kommilitonen zu treffen und mit ihnen die Nacht zum Tag zu machen. In der letzten Zeit blieb er aber an vielen Wochenenden hier in seiner Wohnung. Mir war das recht – so konnten meine Frau und ich uns einreden, er hätte Freunde gefunden oder sogar eine Freundin. Gefragt haben wir nie.«
»Wo leben Sie und Ihre Frau eigentlich?«
»In Dachau. Ein Bekannter hat uns mitgenommen. Ich fahre kein Auto mehr, seit ich den Infarkt hatte. Wir wollten uns nur einen Überblick verschaffen, was überhaupt hier ist und was wir alles zurücknehmen müssen. Wir brauchen sicher noch ein paar Kartons. Wir machen das ja zum ersten Mal.«
Er legte plötzlich die Hand vor die Augen und schluchzte. Die Schultern zuckten, als würden sie von Stromschlägen getroffen. Einen Moment lang befürchtete Gerald, dass Alexander Fadens Vater die Kontrolle verlieren würde. Aber er fing sich bald wieder und atmete mehrfach tief ein und aus.
»Wissen Sie, obwohl wir ihn beerdigt haben, kann ich es nicht begreifen, dass der Alexander nicht mehr da ist. Man zieht sich zurück in seine Erinnerungen, in denen er noch weiterlebt. Es gibt so viele Erinnerungen an seine Kindheit. Ich habe mir eingeredet, er wäre nur irgendwie verreist und würde bald wieder vor der Haustür stehen. Oder diese ganze Geschichte hier wäre nur ein böser Traum. Und dann kommt man in die Wohnung und sieht diese vielen Dinge. Sie kommen einem so kalt vor. Und man versteht, dass er nie mehr wiederkommen wird.«
Die Geräusche aus dem Bad veränderten sich. Die Klospülung wurde zweimal hintereinander betätigt, dann schien Alexanders Mutter ihre Aktivitäten auf die Duschkabine zu übertragen; man hörte ein Quietschen, das durch Reibung eines Lappens auf Glas entsteht. Irritiert drehte Gerald seinen Kopf in Richtung Badezimmer. Herrn Faden war diese Bewegung nicht entgangen. Er hüstelte etwas, bevor er sagte: »Meine Frau – sie putzt den ganzen Tag, zu Hause oder hier. Selbst während der Fahrt im Auto eines Bekannten hat sie ein Tuch herausgeholt und die Türgriffe von innen abgewischt. Sie kann über Alexander nicht reden, wissen Sie. Wenn sie nicht von morgens bis abends putzen würde, würde sie zusammenbrechen.«
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Verzeihen Sie. Das müssen Sie sich nicht anhören. Sie haben sicher anderes zu tun. Muss ich irgendetwas machen? Etwas unterschreiben?«
»Nein«, sagte Gerald. »Ihre Äußerungen bestätigen, was wir ermittelt haben. Werden Sie von Ihrem Bekannten wieder abgeholt?«
Herr Faden schüttelte den Kopf. »Er hat uns nur hier absetzen können. Wir werden später den Zug nehmen.«
»Ich fahre Sie gerne zurück, wenn Sie nicht mehr lange zu
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