Die Narbe
ruhig schlief. »Was ist nur mit uns passiert?«, fragte sie.
Er hatte keine Antwort parat. Aber er war unendlich dankbar, dass sie ihn nicht attackierte, sondern einfach eine Frage stellte.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ich weiß nur, dass ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne. Ich habe keine Kontrolle mehr über mich. Es ist, als ob alles unter mir wegrutschen würde. Ich weiß nicht mehr, was morgen passieren wird. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich möchte, das morgen passiert.«
Sie rührte in ihrem Tee. »Gerald, das alles sind doch nur Zitate. Sprüche. Ausflüchte. Plattitüden. Das mit uns ist doch kein zweitklassiger Film.« Sie setzte die Tasse abrupt auf dem Küchentisch ab und schaute ihn böse an. »Ist es, weil Sevi mir meine Brüste hässlich trinkt? Weil ich meinen Hintern nicht wieder in Form kriege? Weil die Schwangerschaftsstreifen aussehen wie eklige, tote Würmer? Weil ich seit Sevis Geburt keinen Mann in mir ertrage und dir nicht einmal Abhilfe verschaffe, wie du das vielleicht von mir erwartest, weil es, wie du findest, zu den ehelichen Pflichten gehört? Weil dein prallvoller Schwanz bald explodiert? Ja? Ist es das am Ende? Dein pochender Schwanz?«
Jeder einzelne Satz riss einen Fetzen aus dem hauchdünnen Fell, das er sich seit Monaten zugelegt hatte. Jeder einzelne Satz stimmte, und mit ihrer Anklage konnte er sogar irgendwie fertigwerden. Aber da war eine tiefere Wahrheit, die ihn quälte und die diese pfeilschnellen Sätze nicht trafen.
»Ja. Auch darum geht es. Ich möchte wieder mit dir vögeln. Ich will einen ganzen Sonntag mit dir im Bett verbringen wie früher. Aber es ist nicht nur das. Ich möchte wieder existieren, verstehst du? Ich möchte wahrgenommen werden. In unserem Leben geht es vierundzwanzig Stunden lang, in jeder Minute, in jeder beschissenen Sekunde an sieben Tagen die Woche nur um unser verdammtes Kind. Das ist krank. Ich werde meinen Sohn irgendwann hassen deswegen.« Er schluchzte plötzlich, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, gleich würde er anfangen zu weinen.
»Bist du jetzt völlig durchgedreht?«, zischte Nele. Sie nahm Severin vorsichtig aus der Wippe, obwohl er ruhig schlief und Geralds Ausbruch über ihn hinweggegangen war wie weit entfernter Flugzeuglärm. Nele streichelte vorsichtig über den Kopf ihres Sohnes, legte ihn in ihren Schoß, als wolle sie ihm die Brust geben. »Du selbstgerechtes, selbstgefälliges Schwein. Du fickst eine andere, und Severin soll auch noch daran schuld sein? Du bist krank, nicht die Situation. Du brauchst eine Therapie, wenn dir nichts Besseres einfällt, als einem Baby die Schuld zu geben.«
Er musste lächeln. Es lag ihm auf der Zunge, von der Gruppentherapie zu erzählen, aber instinktiv spürte er, dass es das Gespräch nur auf ein anderes, ein falsches Gleis bewegen würde. Nein, wenn ihm überhaupt etwas klar geworden war in den zwei Therapiestunden, dann war es die Tatsache, dass er nicht länger mit Schuldgefühlen auf Dinge reagieren wollte, die andere in sein Leben getragen hatten: sein Vater durch sein Verschwinden, sein Schulfreund, der sich angeblich umgebracht hatte, seine nervige Mutter, Neles Distanz.
»Ich soll also krank sein? Ich allein? Das ist reichlich bequem, oder? Du hast dich so verändert, Nele, ich weiß gar nicht mehr, wer du bist. Vielleicht weißt du es ja selbst nicht mehr, mag sein. Aber du bist mit Sicherheit nicht mehr die Frau, die ich einmal kannte, du bist nur noch eine düstere Wolke aus Sorgen, Ängsten, Kümmernissen.«
»Es reicht! Ich höre mir diese Beleidigungen nicht länger an.«
»Oh. Du machst Fortschritte. Ich hätte eigentlich erwartet, dass du sagst: Wir hören uns solche Beleidigungen nicht länger an, nicht wahr, mein lieber Severin ?«
Sie antwortete nicht. Sie legte eine Hand unter Severins Hinterkopf, stand auf und verließ die Küche.
»Das ist extrem hilfreich«, rief er ihr hinterher. »Weiter so, zeig mir, dass Severin zu dir gehört. Dass er nur dir gehört und niemandem sonst. Es wäre ja auch erstaunlich, wenn du dich mit etwas anderem als ihm beschäftigen würdest.«
Keine Reaktion. Es blieb vollkommen still in der Wohnung, und diese Stille lärmte in ihm, dass er Angst hatte, sein Schädel könne explodieren. Er konnte nicht länger in der Wohnung bleiben.
Er kippte den restlichen Tee in die Spüle, atmete tief ein und zwang sich, an seine Arbeit zu denken. Dieser Steinhaus würde um fünf kommen, danach müsste er
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