Die Narbe
Beziehungstat hin.
Sie nickte und schloss für einen Moment die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen, aber sie blieb stumm.
»Können Sie mir sagen«, fragte Gerald, »wann Sie zuletzt Dr. Chateaux gesehen haben? Sie sprachen davon, dass Sie ihn nach dieser Paartherapie noch mehrmals getroffen haben.«
»Mehrmals? Wirklich? Habe ich das tatsächlich gesagt?»
»Also, wie oft haben Sie ihn gesehen und wo?«
»Hat das irgendwas mit dem Fall zu tun? Das ist doch meine Privatsache, oder?«
»Bitte beantworten Sie die Frage meines Kollegen«, insistierte Batzko.
»Wir haben uns zufällig in der Stadt getroffen, nach der Therapie, meine ich. Kurioserweise sogar mehrmals. Wir haben dann einen Kaffee getrunken und geplaudert. Wir, ich meine damit meinen Mann, Dr. Chateaux und mich, waren uns sympathisch.«
»Sie haben ihn also nicht in der Praxis aufgesucht?«
Sie schaute zuerst Gerald an, dann Batzko. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Doch. Das ist auch einmal passiert.«
»Wenn ich mir vor Augen führe, wo Dr. Chateaux wohnt, ist es schwer vorstellbar, dass Sie mit zwei Einkaufstüten in der Hand vom Viktualienmarkt in seine Praxis gestolpert sind.«
Sie errötete. »Aber es waren keine Treffen, wie Sie sie vielleicht vermuten. Ich habe Arno geliebt. Nur ihn.«
»Warum gingen Sie dann in die Praxisräume von Dr. Chateaux, nachdem die Paartherapie offiziell beendet war?«, bohrte Gerald nach.
Sie senkte den Blick und krampfte die Finger ineinander.
»Ich möchte die Frage nicht beantworten. Wenn Sie mich dazu zwingen wollen, möchte ich vorher mit einem Anwalt telefonieren.«
»Frau Reuther, warum haben Sie uns bei unserem ersten Besuch verschwiegen, dass Ihr Mann Ihnen wenige Tage vor seiner Ermordung von seiner BIID-Erkrankung erzählt hat und von seinem Entschluss, sich das Rückenmark operativ durchtrennen zu lassen?«
Als der Name der Krankheit fiel, sackte Katja Reuther in sich zusammen. Ihre Anspannung löste sich augenscheinlich, als hätte man ein Seil gekappt, an dem ein schweres Gewicht hing. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, nach einem Taschentuch zu greifen.
»Ich werde es Ihnen sagen«, fuhr Gerald fort. »Ihre Beziehung zu Dr. Chateaux ist weit weniger oberflächlich, als Sie uns glauben machen wollen. Sie ist so intim, dass Sie von ihm über die Erkrankung Ihres Mannes informiert worden waren, was Ihr Mann wiederum nicht wusste. Als er Ihnen dann vor wenigen Tagen sein Geheimnis offenbarte und seine Entscheidung für eine Operation mitteilte, mussten Sie nicht nur die dramatischen Konsequenzen für Ihren Wunsch nach Kindern und nach einem ganz normalen Leben verarbeiten, Sie mussten nach Arnos Bekenntnis auch dem Druck standhalten, Ihre Beziehung zu Dirk Chateaux und das Wissen um die BIID-Erkrankung zu verschweigen. Wie Herr Chateaux das mit seiner therapeutischen Schweigepflicht vereinbaren konnte, lassen wir fürs Erste einmal beiseite.«
Katja Reuther hatte ohne äußere Regung zugehört.
»Kann ich also annehmen«, fuhr Gerald fort, »dass Sie Ihrem Mann Ihre freundschaftliche, um nicht zu sagen, intime Beziehung zu Dr. Chateaux gestanden haben?«
Sie nahm das Stirnband ab und hielt es in ihren Händen. »Es war eine unglaubliche Nacht«, sagte sie mit unerwartet ruhiger Stimme. »Der übermächtige Druck fiel von Arno, ein ganzes Gebirge aus jahrzehntelanger Verdrängung, Scham, Schweigen, Hass auf sich selbst und seinen Körper. Dirk war der erste Mensch, dem er sich überhaupt anvertraut hatte. Mir gegenüber hat sich Arno in dieser Nacht so rückhaltlos, so vollkommen ungeschützt offenbart, dass ich es meinerseits nicht ertragen hätte, ihn anzulügen oder ihm etwas so Gravierendes zu verschweigen. Aber es war seltsam, Arno war natürlich verletzt, eifersüchtig; er fühlte sich von mir und von Dirk betrogen und verraten, aber gleichzeitig war er unendlich befreit. Arno hatte alle Dämme brechen lassen, und das hat meine Beziehung zu Dirk gleichsam in den Hintergrund gerückt. Vielleicht hat Arno sein Verschweigen der Krankheit mir gegenüber auch als eine Art Untreue gewertet? Ich weiß es nicht. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass er es so sah, dass Dirk und ich uns ja erst kennengelernt hatten durch seine Probleme. Jedenfalls, sein Geständnis hat uns in dieser Nacht nicht getrennt, sondern vereint. Wir haben zusammen geweint, wir haben miteinander geschlafen, wir haben unsere Gesichter abgeleckt,
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