Die Narbe
als wären wir Babys, wir …«
Batzko warf Gerald einen irritierten Blick zu.
Gerald schaute in den Garten. Die Kinderschaukel setzte sich wie von Geisterhand leicht in Bewegung. Die kühleren Temperaturen hatten auch die Windstille der letzten Tage beendet.
»Soll ich Ihnen ein frisches Glas Wasser holen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Gleich. Wenn ich alleine bin, trinke ich etwas.«
»Die Nacht ist die Nacht, und der Tag ist der Tag«, sinnierte Gerald. »Und die realen Probleme stellen sich am Tag. Wie ist es weitergegangen, am Tag danach? Wollte Ihr Mann auf die Operation verzichten oder sie zumindest verschieben, bis Sie Ihren Kinderwunsch realisiert hatten? Hat er Ihnen die Beziehung zu Chateaux verzeihen können? Und was ist mit Chateaux selbst? Hat er darauf gedrungen, die Operation durchführen zu lassen?«
»Ja. Dirk.« Sie sprach leiser, wie zu sich selbst. Gerald hatte den Eindruck, dass sie erleichtert war, nicht länger über ihren verstorbenen Mann und sich selbst reden zu müssen. »Er hat diese wunderbare Gabe, Menschen ganz tief in sich selbst schauen zu lassen, verborgene Ängste, Verletzungen und Verdrängungen aus den dunklen Stollen ihrer Psyche ans Licht zu holen, wie er es ausdrückt, und sich dadurch selbst endlich erfahren zu können. Das Leben erscheint uns allen so schwer und mühsam, nicht wahr? Dabei sind es doch nur wir selbst, die uns im Wege stehen. Wer sich ganz annimmt, wer sich einmal um die eigene Achse dreht und jeden Grad seiner Bewegung, jede Facette seines Ichs bejaht und leben lässt, für den ist das Leben nicht wirklich schwer. Er lebt es, und wer sein Leben wirklich lebt, empfindet es nicht als Anstrengung und Leid. Es ist einfach nur das, was es ist, und es ist gut so, wie es ist.«
»Amen. Und so gehet hin und verbreitet meine Wahrheit über alle Völker dieser Erde. Oder so ähnlich. An wen erinnert mich dieser Chateaux nur?«
Gerald hielt den Atem an. Batzko hatte Chateaux über die Maßen provoziert, und jetzt streute er Salz in die Wunden dieser Frau. Zu seinem nächsten Geburtstag, überlegte Gerald, schenke ich ihm eine Schnupperstunde bei einem Psychologen seiner Wahl. Diese militante Abwehr ist doch selbst schon neurotisch.
Zu seiner Erleichterung reagierte Katja Reuther nicht auf Batzkos Provokation. Sie atmete gleichmäßig und bewahrte die Ruhe. Aber Gerald musste feststellen, dass sich in die letzten Sätze ein anderer Ton eingeschlichen hatte. Zwar war es Katja Reuther, die sprach, aber den Text hatte Dr. Dirk Chateaux geschrieben.
»Ich will damit sagen«, fuhr sie fort, »er hat auch mir geholfen. Ich hatte nie wirklich Selbstvertrauen. Ich habe mich nie wirklich begehrenswert und aufregend empfunden. Das kommt sicher daher, dass ich eine ältere, sehr attraktive Schwester habe. Die Jungs in der Schule haben eigentlich nur mit mir geredet, um an meine Schwester heranzukommen. Wenn ich zu einer Fete eingeladen wurde, hörte ich immer den Satz: Ach, bring doch ruhig deine Schwester mit. Okay? Arno hat mich geliebt, das habe ich immer gespürt, aber unsere Beziehung hatte im Grunde geschwisterliche Züge angenommen. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass seine Art der Erkrankung ein ablehnendes Verhältnis zur Sexualität impliziert hat. Deshalb nehme ich an, dass für ihn das Sexuelle keine große Bedeutung hatte. Wir haben uns, obwohl wir so viele Jahre zusammen waren, niemals explizit über unsere Sexualität unterhalten. Ich aufgrund meiner Unsicherheit nicht, er aufgrund seiner Krankheit nicht, nehme ich an. Dirk, ich meine natürlich Dr. Chateaux, hat das erkannt, und in den Gesprächen mit ihm ist der Funke eben übergesprungen. Vom theoretischen Fahrunterricht zum praktischen, könnte man sagen.« Sie lachte auf, als wäre sie dankbar, der Situation etwas von ihrer Dramatik zu nehmen. »Aber es ging nie darum, meine Ehe aufzugeben. Es mag sich paradox anhören, aber Dirk wollte nicht mit Arno konkurrieren, sondern er wollte mir helfen, eine gelöstere, lustvollere Ehe zu führen. Vielleicht hatte er auch mit anderen Frauen Verhältnisse, aber das hat mich nie beschäftigt. Daran sehen Sie, dass er für mich immer ein Therapeut geblieben ist, nicht der Mann, mit dem ich emotional verbunden war.«
»Ich beglückwünsche Sie zu einem so potenten Samariter«, schaltete sich Batzko wieder in das Gespräch ein, »aber das beantwortet keine einzige Frage meines Kollegen. Welchen Entschluss haben Sie getroffen? Welchen Entschluss
Weitere Kostenlose Bücher