Die Narbe
gleichzeitig fühlte er eine Art von schmerzlicher Vertrautheit mit jener Nele, in die er sich verliebt hatte: direkt, impulsiv, kämpferisch – bevor Schwangerschaft und Geburt sie in ein zitterndes Bündel aus Angst, übertriebener Vorsicht und Misstrauen verwandelt hatten.
»Hast du gestern noch Volker Pollinger getroffen?«, fragte er, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
»Ich habe ihn noch an der Wohnungstür von dieser Kattowitz erwischt«, antwortete Batzko und schaltete einen Gang hoch. »Er ist jetzt wieder für vier Tage auf der Autobahn. Er bleibt eisern bei seiner Darstellung, er hätte am Tatabend Alexander Faden weder gesehen noch gehört und er hätte die Wohnung der Kattowitz zu keinem Zeitpunkt verlassen.«
»Wie beschreibt er sein Verhältnis zu Alexander Faden?«
»Untergründig ist zu spüren, dass es ihm quer im Hals stand. Aber offiziell beteuert er, dass Faden lediglich der Babysitter für das Kind seiner Lebensgefährtin war und ihn das nichts anginge, da er schließlich nur an den Wochenenden in ihrer Wohnung sei. Das sagte er wie auswendig gelernt, und gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass er diesen Alexander Faden am liebsten aus der Wohnung gejagt hätte. Der Mann ist nicht dumm; er hat schließlich schon Erfahrung mit unsereins gesammelt. Er weiß, dass wir nichts Handfestes vorweisen können. Solange seine Lebensgefährtin bei ihrer Aussage bleibt, ist er auf der sicheren Seite.«
»Er hat einen anderen und sich selbst immerhin ins Krankenhaus geprügelt, weil seine Lebensgefährtin sich von anderen Männern mittels Kamera betatschen und beschlafen lässt.«
»Pollinger ist ein Pulverfass auf zwei Beinen. Er kann an dem Abend explodiert sein, muss es aber nicht.«
»Es kann ein anderes Pulverfass geben, das sowohl bei Alexander Faden als auch bei Arno Reuther explodiert ist«, meinte Gerald.
Sie hatten ihr Ziel erreicht, eine Filiale der Deutschen Bank am Promenadeplatz. Batzko parkte am Ende der Pacellistraße. Als Gerald ausstieg, fiel sein Blick auf ein Paar auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das vor einem Geschäft stand und sich einen heftigen Wortwechsel lieferte. Die junge, schlanke Frau tippte in diesem Moment mit dem rechten Zeigefinger vor die Stirn des Mannes. Der reagierte blitzschnell: Er packte die Hand und quetschte sie offensichtlich mit aller Kraft, denn das Gesicht der Frau war augenblicklich schmerzverzerrt. Während Batzko bereits in die Bank gegangen war, beobachtete Gerald weiter die Szene. Er hatte das unbestimmte Gefühl, den Mann zu kennen, ihn zumindest schon einmal gesehen zu haben. Plötzlich fiel es ihm ein. Es handelte sich um Lutz aus der Gruppentherapie. Er hatte ihn nicht sofort erkannt, weil er Lutz bisher nur in Motorradkleidung gesehen hatte. Nun trug er eine weit geschnittene Khakihose und ein T-Shirt ohne Aufdruck. Außerdem musste er gerade beim Friseur gewesen sein, die Haare waren auf Streichholzlänge gekürzt. Die Frau war ebenfalls sommerlich und sehr sexy angezogen, in einem kurzärmeligen, karierten Hemd, das über dem Bauchnabel zusammengeknotet war und einen schlanken Hautstreifen freigab. Wut hatte ihre Wangen gerötet. Dann drehte sie sich abrupt auf dem Absatz um und lief weg. Lutz folgte ihr zunächst, hielt aber nach wenigen Schritten inne, um ihr etwas hinterherzurufen, was aber vom Verkehr verschluckt wurde. Er verharrte regungslos, während die ein- und aussteigenden Fahrgäste um ihn herumgingen wie um eine Säule. Schließlich stampfte er davon, in Gegenrichtung zu der Frau, und war bald im Strom der Passanten untergetaucht.
Gerald betrat die Bank, in deren Foyer Batzko wartete und demonstrativ die Arme ausbreitete.
»Mann, wo bleibst du denn? Muss extrem schwierig sein, drei Schritte auf dem Bürgersteig zu machen, oder?«
»Reg dich ab. Ich habe einen Beziehungsstreit beobachtet, der hätte eskalieren können.« Gerald sah keinen Grund, ins Detail zu gehen.
»Jeder sieht nur, was in ihm selbst ist«, grinste Batzko, »das stand mal in einem unserer schlauen psychologischen Handbücher. Könnte aber auch von Chateaux stammen, unserem Dr. Freud und Dr. Sex in Personalunion. Egal – in der Zwischenzeit habe ich unseren Wisch bereits abgegeben. Gleich werden wir mit einem Sachbearbeiter ein aufklärendes Gespräch führen, das habe ich im Urin.«
Gerald sah sich um. Es befanden sich nur wenige Kunden im Haus; dennoch mussten sie mehrere Minuten warten, bis sich ein jüngerer, auffallend dünner Mann
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