Die Narbe
Erbschaft? Den Prozess? Geld als Machtmittel in familiären Beziehungen? Prozessieren meine Geschwister tatsächlich wegen der Erbschaft, wegen einem Haufen Geldscheine, oder geht es nicht vielmehr post mortem um das Einklagen von vermeintlich ausgebliebener Liebe und Respekt zu Lebzeiten, um die Giftschlangen im familiären Sumpf, um …«
»Ich bin an Ihrer Familiengeschichte nicht interessiert«, unterbrach ihn Batzko, »und Ihre psychologische Heißluft können Sie sich für Ihre Patienten aufheben, Herr Dr. Chateaux, nicht für mich. Es geht konkret darum, dass die Bank bereits das Lasso um dieses schöne Anwesen gelegt hat und nur noch den Moment abwartet, um die Schlinge zuzuziehen.«
Der Arzt musterte Batzko, und zum ersten Mal entdeckte Gerald ein gewisses Versagen ärztlicher Distanz und Überlegenheit. In Chateaux’s Blick lagen Abwehr, Schrecken und offene Antipathie.
»Was hat das mit Ihren Ermittlungen zu tun?«, fragte er.
»Sie können Ihren finanziellen Verpflichtungen, die durch den Hauskauf und die Umbaumaßnahmen entstanden sind, nicht mehr nachkommen. Das ist Fakt. Also haben Sie Ihr Angebotsspektrum erweitert: Vermittlung von Operationen im Ausland gegen Vorkasse, so geleistet von Alexander Faden vor zwei Monaten. Schöne nette All-inclusive-Pakete, vielleicht ein zukunftsweisender Weg, um der drohenden Zwangsversteigerung zu entgehen.«
»Ich verbitte mir zynische Unterstellungen dieser Art. Ich glaube, Ihnen ausführlich erläutert zu haben, dass es sehr wohl therapeutische Motive gibt für diesen Umgang mit einer ernstzunehmenden psychischen Störung.«
»Sie verbitten sich hier überhaupt nichts«, bellte Batzko. »Von Arno Reuther war eine weit höhere Summe zu erwarten, die Sie auch dringend brauchten, weil die Handwerker die Arbeit am Pool schon eingestellt und voraussichtlich mit Klage und Pfändung gedroht hatten. Das wäre bei der Bank gar nicht gut angekommen, oder? Deshalb sollte Reuther auch in bar zahlen, nicht wahr? Bedauerlicherweise hat der arme Arno von Ihrem Techtelmechtel mit der hübschen Katja erfahren und die Operation abgeblasen. Oder zumindest aufgeschoben. Also haben Sie Herrn Reuther am Mittwochvormittag in dessen Geschäftsräumen aufgesucht und versucht, ihn doch noch zur Operation zu überreden. Nur hat Arno Reuther sich nicht becircen lassen, vielleicht hat er Ihnen zum ersten Mal die Stirn geboten. Er hat das Geld zurückgefordert, weil er es für seine eigene Firma gut gebrauchen konnte, aber das Geld hatten Sie schon gar nicht mehr, wie Sie ihm kleinlaut eingestehen mussten. Vielleicht hat Herr Reuther daraufhin gedroht, Sie anzuzeigen. Das wäre der Todesschuss gewesen: Ade, schönes Haus in Bogenhausen, ade Swimmingpool. Dafür aber jede Menge Trouble mit der Bank, der Steuer und wohl auch der Ärztekammer. Kurzum, es ging um nicht mehr und nicht weniger als Ihre Existenz.«
In diesem Moment drangen Geräusche aus der Diele. Schritte, Kinderstimmen und das merkwürdige Klappern, das Gerald schon einmal wahrgenommen hatte. Nur wurde diesmal an die Tür zum Besprechungszimmer geklopft.
»Einen Augenblick noch. Ich bin gleich da«, rief Dr. Chateaux.
Dessen ungeachtet wurde die Tür geöffnet. Gerald sah ein fünf- oder sechsjähriges Mädchen mit mittelblonden, glatten Haaren in einem hellen Kleid. Es war sehr schlank. Der rechte Fuß war einwärts gebogen, nur die Fußspitze berührte den Boden. Die Kniescheibe wurde von einer dunkelbraunen Manschette umfasst. Die Muskulatur des Beines wirkte verkümmert. Die Metallkrücken, die bis unter die Schultern reichten, sicherten mühsam das Gleichgewicht.
Hinter dem Mädchen stand ein Junge, auf den ersten Blick erkennbar als Bruder, der drei Jahre älter sein mochte. Er hatte einen bunten Sportbeutel geschultert. Hinter dem Jungen wiederum erschien eine ungefähr zwanzigjährige Frau, die in diesem Moment vor Verlegenheit errötete. Sie war kräftig gewachsen; die Haare waren zu einem Zopf geflochten. Sie trug eine Jeans und ein weites, ausgewaschenes Sweatshirt, dazu aber dunkelroten Lippenstift und Wimperntusche. Auf Gerald wirkte es, als hätte sie das Schminken einfach mal ausprobieren wollen.
»Es tut mir leid«, sagte sie mit unüberhörbarem slawischem Akzent, und Gerald erkannte das Hausmädchen, mit dem er telefoniert hatte. »Die Kinder … sie waren so schnell, Doktor.«
»Du wolltest uns ins Schwimmbad fahren, Papa. Du hast es versprochen«, rief das Mädchen. Es machte einen Schritt auf
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