Die Narben der Hoelle
Hatte ihn das geweckt?
Ein scheußliches Geräusch drang plötzlich an seine Ohren, ein lautes Rumpeln, das durch das ganze Schiff lief.
Heilige Scheiße, der Anker slippte!
Alarmiert sprang er aus der Koje und musste sich sofort an der Kajütwand abstützen. Die Akgül stampfte heftig und zerrte an der Ankertrosse. Oben heulte der Wind über das Deck.
Rasch schloss er das Decksluk.
Immer wieder ruckte das Schiff in die Kette ein, dann folgte das rumpelnde Geräusch des Ankers, der holpernd über Grund glitt, bevor er wieder Halt fand.
Aber da war noch etwas … Johannes stutzte und blickte auf seine nackten Füße.
Sie waren nass.
Er stand im Wasser.
Na klar, Regenwasser, beruhigte er sich. Die offene Luke!
Er steckte einen Zeigefinger in die Pfütze und hielt ihn an seine Zunge.
Salzwasser.
»Verdammt«, fluchte er und ging ein paar Schritte in den Salon hinein. Sofort bemerkte er das Wasser, das auf den Bodenbrettern hin und herschwappte. Nicht allzu viel, aber als er sich vor einer Stunde hingelegt hatte, war der Boden trocken gewesen. Ein böser Verdacht keimte in ihm auf. Schnell hangelte er sich zum Salonsofa und inspizierte die Bordwand hinter der demontierten Verkleidung.
Es war nicht zu übersehen: Einer der Leckpfropfen hatte sich gelockert und hielt nicht mehr dicht. Seewasser floss darunter herein, ein Rinnsal zwar nur …
»Steter Tropfen … « murmelte er und spürte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg. Er zuckte zusammen, als erneut eine Welle mit lautem Knallen an den Rumpf schlug. Die Akgül bockte und riss den Anker noch einmal ein Stück über den Grund. Aus der Achterkajüte kam ein protestierendes Miauen. Johannes schaute hinein. Die Katze saß auf der Kojenmatratze und blickte ihm verängstigt entgegen.
»Du Ärmste«, sagte er zu ihr, »dein erster Segeltörn steht unter keinem guten Stern, fürchte ich … «
Wie eine Antwort kam ein leiser, kläglicher Laut von ihr. Johannes hielt sich am Türrahmen fest. Mit überraschender Wucht sprang ihn ein mächtiges Gefühl von Mutlosigkeit an und breitete sich sofort in seiner Magengegend aus. Er merkte, dass sich das Monster darüber freute.
Genau das Futter, auf das es lauerte … Karen. Denk an Karen, mahnte er sich streng. »Dein Monster hat nur so viel Kraft, wie du ihm lässt«, hätte sie wieder zu ihm gesagt. »Es kann nicht aus sich selbst heraus existieren, es lebt nur von dem, was du ihm zugestehst.«
Wie wundervoll wäre es, sie jetzt an seiner Seite zu haben, wie gut, jetzt mit ihr reden zu können, in ihre strahlenden Kobaltaugen zu sehen und ihre sanfte Stimme zu hören: »Möchtest du mit mir auf eine Reise zu dir selbst gehen?«
Die Sehnsucht nach ihrer Nähe füllte ihn für einen Augenblick vollständig aus, ließ keinen Platz für andere Gefühle und Gedanken.
Fast wäre er gestürzt. Unvermittelt bäumte sich die Yacht auf, als eine schwere Bö über sie herfiel.
Das Scheppern der Töpfe unter dem Herd, gefolgt von einem erschrockenen Laut der Katze, holte Johannes brutal in die trostlose Wirklichkeit zurück. Hastig krallte er sich an der Schlingerleiste fest und schüttelte den Kopf. Hatte er sich Karen wirklich ausgerechnet jetzt hierher gewünscht, in dieses Chaos, auf dieses verwüstete Boot?
Wir könnten ja , Nearer My God To Thee ’ zusammen singen, wie sie es dereinst auf der sinkenden Titanic taten, spottete seine innere Stimme.
»Zynischer Idiot!«, murmelte er und hangelte sich zum Schrank, schlüpfte in seinen Pullover und zog sich mühsam die wasserdichte Segeljacke an. Dann legte er den Schalter für die Lenzpumpe auf ON und stieg an Deck. Die Pumpe würde es erst einmal allein schaffen müssen – hoffentlich hielt sie durch. Später, wenn das Unwetter durchgezogen war, konnte er sich dann um das kleine Leck kümmern.
Es durfte nur nicht größer werden …
Der Himmel hatte sich in der kurzen Zeit vollständig zugezogen, nichts war mehr von der rotgoldenen Morgensonne zu sehen, die ihn beim Frühstück noch gewärmt hatte. Dafür jagten jetzt, vom Sturm getrieben, schwarze Wolkenfetzen tief über die Bucht, der Regen flog fast waagerecht durch die Luft, und das Boot stampfte wild zwischen den schäumenden Wellenkämmen.
»Mist, Mist, Mist«, fluchte Johannes und startete den Motor wieder. Er musste manövrierfähig sein, falls der Anker gänzlich aus dem Grund brach. Dann würde er mit Motorkraft gegen den Sturm halten müssen. Den zweiten Anker, der achtern vertäut gewesen war, konnte er
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