Die Narben der Hoelle
Minuten, tat wohl, balsamierte die Seele.
Sich fallen lassen – verlockende Versuchung.
Doch das durfte er sich nicht gestatten. Er hatte vor langer Zeit seine Entscheidung getroffen. Und er wurde hier gebraucht.
Er musste funktionieren.
Das Versteck der Geiseln musste endlich gefunden werden. Dafür forderte man eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Amerikanern von ihm. Das war jetzt sein Auftrag.
Sein Auftrag, sein Beruf.
Und seine Zweifel. Die wurden von Tag zu Tag größer.
Er dachte an den unseligen Luftangriff auf den Tanklastzug vor einigen Monaten. Zu viele Opfer, Zivilisten – auch Kinder.
Nie zuvor hatten sich die Taliban größeren Zulaufs an Freiwilligen erfreut als nach diesem militärischen Desaster. Und nie hätte Johannes sich vorher vorstellen können, dass das mühsam aufgebaute Vertrauensverhältnis zu den Menschen im Lande in so kurzer Zeit in offene Abneigung umschlug.
In Hass.
Auf jeder Patrouille war das jetzt zu spüren.
Was war geschehen? Noch immer wüteten die verblendeten Gotteskrieger brutal unter ihren Landsleuten. Rücksichtslos benutzten sie die ärmlichen Hütten in den Dörfern als Hinterhalt, bedrohten die machtlosen Bewohner und terrorisierten ganze Landstriche. In den Städten, vor allem vor amtlichen Gebäuden, jagten sich ihre Selbstmordattentäter in die Luft – manche nicht älter als elf, zwölf Jahre.
Entsetzliche Blutbäder. Afghanistan litt weiter unter der Willkür der Taliban. Die sechzigtausend Soldaten aus aller Welt hatten daran nichts ändern können. Dennoch erschien den geschundenen Menschen dieses rätselhaften Landes anscheinend eine erneute Knechtschaft unter gewalttätigen Fanatikern mehr und mehr als das kleinere Übel.
Sie wollten die fremden Soldaten loswerden. Ihr Leben würde dann nicht schöner, das wussten sie aus der Zeit der ersten Taliban-Herrschaft.
Aber vielleicht etwas sicherer.
Um Himmels willen, was war hier so furchtbar falsch gelaufen?, fragte sich Johannes verzweifelt, welche Fehler hatten sie gemacht?
Es hatte sich etwas geändert im Vergleich zu früheren Einsätzen, das war nicht zu verkennen. Die Anzeichen mehrten sich, dass die ganze Sache aus dem Ruder lief …
Corinna hatte vielleicht doch recht, dachte er bitter. Vielleicht wollte er sich seine Mission hier schön reden. Vielleicht hatte sie früher gesehen, was er erst jetzt langsam erkannte.
Vielleicht? Mit einem Satz sprang er vom Bett und stellte sich fest auf seine Füße. Es war sicher nur der Trennungsschmerz, der sich wie Mehltau über sein Denken gelegt hatte.
»Dann denk eben nicht so viel«, murmelte er, »sondern mach deine Arbeit. Und mach sie gut. Sonst sterben wieder Leute … «
Er griff nach der Wasserflasche und trank ein paar tiefe Schlucke. Hier drinnen sorgte die Klimaanlage für angenehme Temperaturen, aber er hatte den ganzen Vormittag draußen in der brütenden Hitze zugebracht und war immer noch durstig. Eigentlich hätte er jetzt zum Mittagessen gehen können, aber er hatte wieder einmal keinen Hunger.
Seine Appetitlosigkeit machte ihm langsam Sorgen. Natürlich wusste er, dass sie etwas mit seiner Gemütsverfassung zu tun hatte. Aber er wollte sich nicht zum Essen zwingen. Das würde sich schon wieder normalisieren, wenn …
Ja, wenn – was? Wenn er Corinna vergessen hätte? Bis dahin wäre er vermutlich verhungert.
Wenn er Antworten auf seine vielen Fragen gefunden hätte? Gab es die überhaupt?
Er trank die Flasche aus. Wieder hinaus zu seinen Leuten. Arbeit war das Einzige, was ihm half, nicht in ein schwarzes Loch zu fallen.
Als er sich gerade seinen Flecktarnanzug wieder anzog, klingelte das Telefon auf dem kleinen Schreibtisch.
»Kommen Sie bitte sofort herüber zu mir«, sagte der Kommandeur. Die Anspannung war seiner Stimme deutlich anzumerken. »Vor mir sitzt einer unserer einheimischen Sprachmittler und erzählt eine abenteuerliche Geschichte. Aber wenn die stimmt, dann kennen wir jetzt den Ort, an dem die Geiseln gefangen gehalten werden … «
21
September
Türkei
Jäh fuhr er hoch und lauschte. Die Armbanduhr zeigte ihm, dass er erst eine Stunde geschlafen hatte.
Die Tabletten wirkten. Die Wunde unter dem Verband schmerzte kaum, solange er den Arm nicht bewegte, und in seinem Unterleib pochte es nur noch verhalten. Davon war er sicher nicht erwacht, so todmüde und zerschlagen wie er in seine Koje gefallen war.
Warum dann?
Durch das offene Decksluk regnete es herein. Das Fußende der Koje war bereits nass.
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