Die neue A....- Klasse
Tüte Chips, die eigentlich für mich bestimmt war. Und wie konnte es sein, dass die Sandwiches manchmal nicht richtig eingepackt waren und von all dem Kühleis in der Tasche ganz matschig wurden? Wieso schrieb meine Mutter nicht meinen Namen auf eine Serviette und wickelte meine Brote darin ein? Wie konnte sie nur so gedankenlos sein? Wusste sie nicht, dass dies - neben dem Schwimmen im Pool - einer der wichtigsten Bestandteile der Ferienreise war? Okay, ich gebe es zu, mein Verhältnis zu meiner Mutter ist nicht ganz ungetrübt.
Die Fahrt in unserer bis zum Rand vollgepackten Familienkutsche zog sich jedes Mal eine halbe Ewigkeit hin. (Mit drei Kindern auf dem Rücksitz eines Oldsmobile und damit insgesamt fünf Personen entsprachen diese Fahrten für ein Mädchen meiner Größe ganz bestimmt nicht der Idealvorstellung von Bequemlichkeit.) Kennzeichenraten vertrieb uns die Zeit, bis der Abend hereinbrach und mit ihm Millionen Glühwürmchen und die Verheißung großer Ferienabenteuer.
Sobald ich vom Rücksitz aus einen Blick auf das Hotelschild in der Ferne erhaschte, kannte meine Freude keine Grenzen. Und kaum hatten wir unsere Zimmer bezogen, erwarteten mich unzählige Aufgaben: Ich musste die Seifen auswickeln, das Schutzpapier von der Klobrille abziehen und mich auf die Suche machen nach der Eismaschine und dem Limo-Automaten auf dem Korridor. Doch das Allerwichtigste und damit der eindrucksvollste Augenblick der Reise war … der Anblick des blau erleuchteten Superpools mit Sprungbrett und allen Schikanen. Das Prozedere war jedes Mal dasselbe: Sofort nach dem Einchecken ins Bad, bevor die anderen es ewig blockierten, rein in die Badesachen, Handtuch greifen, und schon war ich unterwegs zum Pool. Ich rannte so schnell, dass das Handtuch von meinem noch etwas unförmigen
Mädchenkörper rutschte. Mir war aufgefallen, dass sich, scheinbar im Schlaf, sonderbare Dinge mit ihm vollzogen - merkwürdige Wölbungen und Rundungen bildeten sich, und ich besaß den ungelenken Charme einer Heranwachsenden. Ständig zupfte und zerrte ich an mir herum, zog meinen Badeanzug aus der Po-Ritze, schlang mir das Handtuch über die Schultern, dann um den Hintern, dann wieder um die Schultern und schließlich um die Hüften, um meine Beine zu kaschieren. Auch im Hinblick auf meinen Badeanzug war mein Verhältnis gespalten. Einerseits liebte ich ihn, weil ich mich darin in den Pool stürzen konnte, andererseits war er mir verhasst, weil er so viel von meinem in der Metamorphose befindlichen Körper preisgab.
Jedenfalls stürmte ich durch die Dunkelheit zum Pool, der häufig vom riesigen Hotelschild erleuchtet war. Ich riss die schmale Metalltür auf und schrie »Jippiie«, bevor ich mich kopfüber ins Tiefe stürzte. Mich kopfüber in etwas hineinzustürzen, sollte zu einer Art rotem Faden in meinem Leben werden (siehe auch Lauras Bekenntnis »Der D-Liga-Freund«, Seite 121). »Ich bin im Wasser«, jubelte ich begeistert, denn im Wasser war kein Platz für meine negativen Gedanken, für meine Zweifel und mein mangelndes Selbstwertgefühl. Hier war ich sicher vor der Verlegenheit wegen meiner sich entwickelnden Weiblichkeit und den Problemen mit meinen konkurrierenden Brüdern. Und noch ein Vorteil: Meine Größe spielte keine Rolle mehr. Ich konnte aufhören, mir Gedanken um meinen seltsam geformten Hintern und meine sprießenden Brüste zu machen. Mit dem Eintauchen in die samtige blaue Tiefe war ich schlagartig sämtlichen jugendlichen Peinlichkeiten entflohen. Die Haare klebten platt an meinem Kopf, ich konnte Wasserblasen aufsteigen lassen, und ich konnte … dahintreiben. Einmal im Pool, war es schier unmöglich, mich wieder an Land zu bekommen. (Ich könnte
problemlos dort leben, als Meerjungfrau oder so, müsste nie wieder mein Gewicht spüren, mir nie wieder überlegen, welche Klamotten ich anziehen sollte, um meinen Körper zu verbergen. Nie wieder, für den Rest meines Lebens!)
Aber irgendwann kam immer der Moment, in dem ich meinen Hintern wieder an Land schwingen und am ganzen Leib zitternd in unser Zimmer zurückkehren musste. Manchmal musste ich pitschnass auf der Bettkante sitzen und warten, weil meine Brüder oder meine Eltern das Badezimmer endlos lange mit Beschlag belegten. Aber das war es wert. Jeden einzelnen Moment. Selbst die spitzen Kieselsteinchen, die sich auf dem Weg in meine nackten Fußsohlen bohrten, meine schrumpeligen Finger, ja, auch das widerliche Gefühl, sich aus dem klammen Badeanzug zu
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