Die neue Lust am Essen: Vom Laster Nikotin und Fastlife zu Lebensgenuss und Slow Food (German Edition)
weckte mich das große Geläut der Glocken vom nahen Kirchturm frühzeitig aus meinen glücklichen Träumen von erlesenen Köstlichkeiten, die meinen Gaumen und mein Herz erfreuen, den Barockengel aber weiter in die Enge treiben würden. Es war ein strahlend schöner Morgen und durch das offene Fenster drang der intensive Duft eines voll in Blüte stehenden Holunderstrauches.
In meinen nikotinumnebelten Zeiten hätte ich diesen herrlichen Duft wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen, nicht wahrnehmen können, weil der permanente Rauchgeruch rund um mich sogar die kräftigsten Düfte überlagerte und verzerrte. In gewisser Weise geruchsblind und wie ferngesteuert durch den stets vorhandenen Rauchgeschmack in meinem Mund hätte ich wohl nur schnell ein Alibifrühstück hinuntergewürgt, um endlich die erste Zigarette des Tages anzünden zu können. Die Erste war immer die Beste.
Zwar schaffte ich es selbst als eingefleischtester Nikotin-Freak nicht, auf nüchternem Magen zu rauchen, aber spätestens eine Viertelstunde nach dem Aufstehen musste es dann schon sein. Sogar jetzt war mir der Superkick des ersten Zugs des Tages noch in starker Erinnerung. Das gierige Saugen an der Zigarette und dann sofort die Belohnung, das starke Gefühl, wenn sich das geliebte Gift in meinem Körper ausbreitete, von den Lungen bis in die Zehenspitzen.
Nachdenklich griff ich zu meinem Erfolgsprotokoll, das ich mit immer längerer Nikotinabstinenz kaum mehr aus den Augen ließ und stolzerfüllt überallhin mitschleppte, sogar ins Schlafzimmer. Und siehe da: Der heutige Tag erwies sich gleich in doppeltem Sinn als Feiertag, denn ich konnte neben dem 30. Mai die wunderbare Eintragung „200. Tag“ vornehmen, was meinem Belohnungskonto ein sattes Plus von 1320 Euro bescherte. Dazu zeichnete ich einen gar nicht mehr so pummeligen, gar nicht mehr so verklärt lächelnden, schon ziemlich ins Schwitzen geratenen Barockengel.
Mehr als ein halbes Jahr habe ich schon geschafft!
Toll!
1320 Euro!
Wirklich toll.
Damit ließe sich schon einiges anfangen …
Aber abgerechnet wird per Jahresfrist.
Du redest wie eine Buchhalterin.
Ich passe nur auf.
Ich weiß. Wobei, eine schöne Reise wäre schon drin. Eine Reise in den Süden …
Äußerst zufrieden legte ich das Büchlein beiseite, schlug die Bettdecke zurück, schloss die Augen, atmete tief durch und nahm ein überaus sinnliches Bad im Holunderduft.
Schöner neuer Garten
Als im Frühsommer die Üppigkeit der Natur ihren Höhepunkt erreichte, versuchte ich mich in meinem bisher vor allem von Blumen und Sträuchern bevölkerten Garten ganz im Sinne von Slow Food erstmals als Hobby-Bäuerin. Es war ja wohl an der Zeit, die Lehre vom Leben mit Nahrung aus dem regionalen Raum in letzter Konsequenz umzusetzen.
Mein geliebter Garten würde mir bald nicht nur Auge und Herz erfreuen, er würde mich auch ernähren. Ich würde ihm jenen Stellenwert wiedergeben, den er vor zwei Generationen hatte, als meine Großmutter ihn bewirtschaftete und immer etwas in ihm zu tun hatte. Dazu gehörte auch, dass sie ihre geliebten Rosen gegen die wilden Ballspiele ihrer Enkel verteidigen musste, während sie eigentlich dafür sorgen wollte, dass der Garten alles hergab, was man sich nur wünschen konnte.
Und er schenkte uns tatsächlich viel Köstliches: herrliches Obst, vollreif und sonnenwarm vom Baum gepflückt, etwas Besseres war kaum vorstellbar. Fast zu jeder Zeit Gemüse, das den Speiseplan der Familie bereicherte, falls es nicht frühzeitig von uns Kindern vernascht wurde. Nicht zu vergessen die vielen Beeren, an denen ich nie vorbeigehen konnte, ohne mich reichlich zu bedienen, und im Herbst Nüsse, frisch vom Baum aus der noch grünen Schale, sehr schwer zu knacken, dafür aber der krönende Genuss des Gartenjahres.
Die Obstbäume von damals gibt es nicht mehr, und den großen Nussbaum hat, als er schon ziemlich altersschwach und morsch geworden war, ein heftiger Sturm so zerzaust, dass er gefällt werden musste. Inzwischen hatte ich neue Bäume gepflanzt und dabei schon, wenn auch unbewusst, auf alte Sorten gesetzt: eine dunkle Knorpelkirsche mit herrlich großen, spät reifenden Früchten, ein Weinbergpfirsich mit pelziger gelblich-grüner Haut und dunkelroten Bäckchen, eine spezielle Ringlotte, hierzulande „Waldviertler Kriecherl“ genannt, goldgelb und süßer als Zucker, und schließlich eine klassische Zwetschke – Slow Food par excellence, aber das wusste ich damals noch nicht.
In
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