Die neue Lust am Essen: Vom Laster Nikotin und Fastlife zu Lebensgenuss und Slow Food (German Edition)
bis 30 Zigaretten pro Tag gebracht hatte, plus etwa drei Jahre der ziemlich rasanten Annäherung an meine große Liebe, alles in allem also … 366825 Zigaretten! Mindestens.
Ich war entsetzt. Angesichts dieser hartnäckigen, jahrzehntelangen Selbstzerstörungsversuche fragte ich mich jetzt vor allem, wie meine armen Lungen die permanenten Attacken überhaupt hatten aushalten können. Es grenzte wohl an ein Wunder, dass ich noch atmete.
Ich erinnerte mich wieder an das Riesenfoto von einer Raucherlunge, das mir im letzten Herbst in einer Apotheke ins Auge gestochen und für meinen abrupten Abschied vom Nikotin wohl in hohem Maße mitverantwortlich war.
Nie wieder Nikotin, schwor ich mir überzeugter denn je. Meine Zauberformel brauchte ich heute nicht mehr.
Frisch geküsst ist halb gewonnen
Die tiefenpsychologische Begründung für meine ganz persönliche Nikotin-Ersatztherapie und meine Wandlung zur sinnlich-bewussten Genießerin lieferte mir dann die heimische Expertin Nummer Eins in Liebesfragen, die in der Sonntagsbeilage eines Massenblatts unter dem Titel „Rettet den Kuss!“ ihr fundiertes Wissen ausbreitete. Auf den ersten Blick schien diese durchaus begrüßenswerte Forderung zwar nicht unbedingt etwas mit meinem Thema zu tun zu haben, allerdings wurde ich bald eines Besseren belehrt.
So hätten etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung ein sehr starkes Verlangen nach Küssen (Warum eigentlich nur 90 Prozent?), während der Rest, immerhin noch 650 Millionen Menschen, nie küsst (Wie kommt das?).
Die Küsse von heute dürften sich, nebst kühner Versuche zur Salzgewinnung oder zur fortpflanzungstechnisch notwendigen Prüfung der jeweiligen Immunsysteme, aus früheren Fütterungsritualen entwickelt haben, die uns so nachhaltig in lustvoller Erinnerung geblieben sind, dass die allermeisten von uns gar nicht mehr genug davon bekommen können. Schon das Saugen an der Mutterbrust bereite uns pure Lust und vermittle tiefe Geborgenheit, wen wundert es da noch, dass wir später an allem saugen, was sich einigermaßen dazu eignet, und sei es auch nur der eigene Daumen, ein Polsterzipfel, ein Lolli oder – eine Zigarette!
Staunend erfuhr ich, dass sich die Wissenschaft schon so sehr des Themas angenommen hatte, dass es bereits Kuss-Statistiken gab, die hoffen ließen, dass auch der bisher noch nicht küssende Teil der Menschheit durch die rasant fortschreitende Globalisierung die Vorteile des Küssens sehr bald schätzen lernen würde.
Beruhigt schloss ich das Journal. Ich hatte genug gelesen. Jetzt musste ich erst einmal über die Verbindung zwischen Mutterbrust und Rauchen nachdenken. Wenn tatsächlich das genüssliche Saugen an einer Zigarette ähnliche Empfindungen in uns auslöst, wie seinerzeit das wonnigliche Nuckeln an Mutters immer verfügbarer Nahrungsquelle, das wiederum für unsere lebenslange Küss-Sucht verantwortlich sein soll, müsste man doch bloß hier ansetzen und den Spieß einfach umdrehen: Küssen statt Rauchen!
Warum gab es nicht längst Kuss-Seminare als Nikotin-Ersatztherapie? Ganz ohne Aschenbecher-Geschmack, mit blütenfrischem Atem und vorsichtiger Erfolgsgarantie wie etwa: „Frisch geküsst ist halb gewonnen!“ Der Sache musste ich mich unbedingt annehmen. Wäre doch wirklich schade um so viel vergeudete Lust.
Barockengel in Nöten
In der nächsten Zeit hatte ich alle Hände voll zu tun, meine diversen Vorhaben voranzutreiben, und war so beschäftigt, dass ich mich täglich weiter von jener trägen Stimmungslage entfernte, die mich früher immer wieder in die beglückenden Arme des Nikotins getrieben hatte.
Ich erstellte raffinierte Schlankschlemmer-Speisepläne, um den Barockengel zu ärgern, verwaltete gewissenhaft meine schnell wachsende Rezeptsammlung, befasste mich eingehend mit den Aktivitäten von Slow Food, walkte vergnügt durch die erwachende Natur, musste frische Zutaten für das Abendessen besorgen, selbiges zubereiten, mein Erfolgsprotokoll weiterschreiben, meine neue Freiheit genießen … Ja und dann musste ich mir auch noch einen Sponsor für mein erstes Kuss-Seminar suchen!
Auf meinen ausgedehnten Streifzügen durch junges Grün und erste Blütenpracht hatte ich reichlich Zeit nachzudenken. Vielleicht sollte ich meinen kühnen Plan mit aufgeschlossenen Vertretern des mittleren Managements von Krankenkassen besprechen … Oder mit dem Dachverband der Lungenfachärzte (falls es diesen überhaupt gab), der seine schützende Hand über mein Projekt legen könnte.
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