Die neue Lustschule
kurz, lang anhaltend, heftig, stark, schwach, tief reichend, umfassend, oberflächlich, dramatisch, unbedeutend, energielos, befriedigend, erfüllend, hinreißend, enttäuschend. Die Vielzahl der möglichen Beschreibungen weist auf das komplexe Geschehen aus körperlichen, seelischen, beziehungsdynamischen Aspekten hin. Auch die Ejakulationen werden sehr unterschiedlicherlebt – vor allem bezogen auf Lust und Befriedigung. Zugespitzt lässt sich sagen: Es gibt Ejakulationen ohne orgastische Lust und Lust ohne Ejakulationen. «Orgasmus» ist eine spezifische Form der Körperlust und wird meistens auch als ein Höhepunkt erlebt. Aber Körperlust ist noch viel mehr: Das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken sowie Berühren eines Körpers kann sensorischlustvolle Reize auslösen, die höchsten Genuss versprechen; Sexualität sollte nicht auf «Orgasmus» reduziert werden, sondern sich als ein ganzheitliches körperliches, psychisches und beziehungsdynamisches Geschehen entfalten können. Wer nur orgasmusorientiert kopuliert, für den wird Sex rasch zur unangenehmen Anstrengung und führt bei Misserfolg zur großen Enttäuschung. Bei entwickelter Beziehungskultur hingegen kann man sich sehr wohl darüber verständigen, Zärtlichkeiten auszutauschen und sich auch sexuell zu vereinigen, ohne einen körperlich-orgastischen Abschluss herbeiführen zu wollen. Es gibt viele Situationen, in denen der Weg zum Orgasmus erschwert oder gar unmöglich ist, was aber kein Grund sein muss, auf Sexualität zu verzichten.
Eine große Liebe lässt auch auf der Ebene der geistigemotionalen Beziehung orgastische Erlebnisse zu, so wie auch jedes andere Bedürfnis eine orgastische Befriedigung erfahren kann, wenn man nur in der Lage ist, sich frei und ungestört der Erfüllung hinzugeben. Hinderlich sind dafür vor allem leibseelische Verspannungen, die auf konfliktträchtige Erfahrungen zurückgehen und die sowohl eine konzentrierte Zuwendung an die Bedürfniserfüllung als auch eine körperlichmuskuläre Hingabe an die Lust unmöglich werden lassen.
Bringt man die Luststörungen in unserer Kultur mit der Tabuisierung des Lilith-Mythos in Verbindung, lassen sich zwei zentrale Affekte psychodynamisch erklären: die Schamangst der Frau, die nicht als «Hure» gelten möchte, und dieMachtangst des Mannes vor einer sexuell aktiven und lustfähigen Frau. Die Schamangst der Frau verschwindet weder durch die Verweigerung bzw. Abwertung sexueller Praktiken noch durch die Beschuldigung der Männer, die wollten angeblich immer nur «das Eine»; sie lässt sich weder durch besonders aufreizendes und nymphomanisches Sexualisieren noch durch den Gebrauch von Artikeln aus dem Beate-Uhse-Reich abtrainieren. Ebenso die Angst des Mannes vor Macht- und Kontrollverlust: Sie lässt sich weder durch einen großen Penis noch durch sexuelle Gewalt gegen Frauen, weder durch aufgezwungene Praktiken (oder gar Vergewaltigung) noch durch die außergewöhnliche Häufigkeit sexueller Handlungen bewältigen.
Wir müssen Scham und Angst vor der Sexualität, deren Abwertung oder lustlose Hinnahme, aber auch die leistungs- und technikorientierte Sexsucht oder Promiskuität in aller Regel als eine entwicklungspsychologisch bedingte narzisstische Störung begreifen, die sich ausschließlich in Verbindung mit der Persönlichkeitsproblematik verbessern lässt. Das Trio Adam – Lilith – Eva verkörpert im Grunde die drei wesentlichen Merkmale narzisstischer Störungen: der Adam-Macho, der Macht aus Selbstunsicherheit anstrebt, die Lilith-Verführerin, die Liebesunfähigkeit sexualisiert, und die Eva-Mama, die sich über Kinder aufwertet und ihre Eigenständigkeit und Partnerschaft dabei vernachlässigt.
Alle drei Figuren unserer jüdisch-christlichen Überlieferung verkörpern auf diese Weise auch Aspekte der Luststörung: die gestörte Selbstsicherheit, die Liebesunfähigkeit und die fehlende Eigenständigkeit. Diese grundlegenden Strukturstörungen der Persönlichkeitsentwicklung entstehen bei zu früher Trennung des Kindes von der Mutter, bei elterlichem Liebesmangel und bei einer zu großen Fremdbestimmung des Kindes.
Lilith, Eva und Adam stehen darüber hinaus auch für drei grundlegend verschiedene Lustformen:
Der Lilith-affine Orgasmus ist selbstbezogen-narzisstisch. Der Partner wird für die eigene Lust benutzt. Die Körperlust wird betont, Beziehungslust vermieden. Der Orgasmus muss schnell
gemacht
werden, ist stärker klitorisbezogen bzw. auf schnelles Abspritzen
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