Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
1995 auch zu 93 Prozent ein akademisches Studium abgeschlossen und zu 52 Prozent mit dem Doktortitel gekrönt. Bei den Aufsichtsratsvorsitzenden waren es 91 Prozent bzw. 60 Prozent. Hatte das Jurastudium früher dominiert, drang bis 1995 auf seine Kosten die Wirtschaftswissenschaft vor, so dass sich der Anteil der Betriebs- und Volkswirte in den Spitzenpositionen fast verdoppelte. Diese Verschiebung der Studienfächer, in der sich auch die «Amerikanisierung» der Unternehmensführung niederschlug, änderte aber nichts an der internen Struktur der Wirtschaftselite. Ihre Netzwerke sorgten für Informationen und die Verbesserung der Marktchancen, für die Koordination betrieblicher Schachzüge, für die Konsolidierung und Integration der Unternehmen; sie sorgten für den Schutz gegenüber Außenseiterrivalen und für einen Vertrauensvorschuss, wenn es um den Kampf gegen Konkurrenten ging.
Wenn man die verblüffend gesteigerte soziale Homogenität der oligarchischen Wirtschaftselite, damit auch vor allem ihre exklusive Rekrutierung, überzeugend erklären will, führt es in die Irre, im altmarxistischen Stil die machterprobte Raffinesse einer herrschenden Klasse zu unterstellen, die seit jeher für die reibungslose Kooptation von aufstrebenden Klassengenossen gesorgt habe. Auch haben Universitätsexamina und Doktortitel, Auslandsstudium und hochkarätige Praktika offensichtlich nicht den Ausschlag gegeben, da ein großes Bewerberfeld diesen Kriterien entsprach.
Vielmehr hat der Besitz eines «klassenspezifischen Habitus» die entscheidende Rolle bei der Gewährleistung der Elitenkontinuität gespielt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat unter dem Habitus jene innere Steuerungsanlage verstanden, die durch den Sozialisationsprozess während der Kindheit und Jugend in den Individuen als gesellschaftliche Struktur installiert wird. Dank der Summe von fest verankerten Dispositionen erzeugt er spezifische Persönlichkeitsmerkmale, die wiederum den Verhaltens-, Geschmacks-, Sprach- und Dresscode, den Denkstil und das ästhetische Urteil prägen. Da die Auswirkungen des Habitus vom Anschein der Natürlichkeit einer Ausstattung mit persönlichen Eigenschaften umgeben werden, obwohl diese Leitinstanz keineswegs auf Veranlagung und genetisch gesteuertem Naturell beruht, sondern dank einer lang währenden Sozialisationsphase an die Klassenstruktur gebunden ist, gehört der Habitus durchaus zu den zunächst «verborgenen Grundlagen der Herrschaft».
Welcher Habitus empfiehlt seine Besitzer für die Wirtschaftsoligarchie? Das sind die Souveränität des Auftretens und der Umgangsformen, eine breite Allgemeinbildung, die Sicherheit des Geschmacks, eine unternehmerisch-zweckrationale Einstellung, Optimismus in der Lagebeurteilung und klare Lebensziele. Fördernd sind das kulturelle Kapital der Familie und ihr soziales Kapital, das Netzwerk der Beziehungen und Sicherheitspolster der familiären Ressourcen zu nennen. Wahrscheinlich zählt als entscheidender Vorzug die persönliche Souveränität. Aufsteiger dagegen besitzen zwar auch die Universitätsdiplome, den Doktortitel, ihre Auslandserfahrung beim Studium oder während der Praktika, doch fehlt ihnen die äußere und innere Sicherheit, die Selbstverständlichkeit des Auftretens und Geschmacks. «Lässigkeit, Charme, Umgänglichkeit, Eleganz, Freiheit» – mit einem Wort: die angebliche Natürlichkeit tritt hinter der im Ehrgeiz begründeten Angestrengtheit und Überkorrektheit auf eine fatale Weise zurück, denn sie determiniert die Entscheidung gegen den Karrieresprung.
In den Entscheidungsgremien herrscht von vornherein Sympathie für jenen Nachwuchs, welcher der eigenen Persönlichkeit, wie man sie dort sieht, am klarsten ähnelt, und diese Persönlichkeitsmerkmale werden ausschlaggebend am Habitus abgelesen. Da die klassenspezifischen Eigenschaften unzweideutig an die soziale Herkunft gebunden sind, ergibt die Dominanz des Habituskriteriums die Rekrutierung aus den eigenen Reihen, die, wie es scheint, Garantie der Elitenkontinuität und die anhaltende, ja gesteigerte Homogenität der Wirtschaftsoligarchie. Leistungen zu erbringen muss der Besitzer des erwünschten Habitus zwar imstande sein, aber von dem Ideal einer offenen Leistungselite hat sich die Wirtschaftselite in ihrem sozialen Konzentrationsprozess immer weiter entfernt.
6.
Die Ungleichheit auf den deutschen Heiratsmärkten
Während der materielle und soziale Konzentrationsprozess die
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