Die neuen Weltwunder - In 20 Bauten durch die Weltgeschichte
cenotes , natürlich entstandene Zugänge zum Grundwasser, wenn der Kalkboden, der unter der vielfach mageren Erdkrume der Halbinsel liegt, eingebrochen war. Chichén Itzá verfügt über zweigroße davon: im Stadtzentrum einen, der zur Wasserversorgung genutzt wurde, sowie ganz im Norden den heiligen cenote , bis weit in die Zeit der Spanier reich besucht von Pilgerreisenden aus nah und fern, die Opfergaben ins Wasser warfen. Die Wasserstelle hat einen Durchmesser von fünfzig Metern, vom Rand bis zur Wasseroberfläche sind es zwanzig Meter, und ebenso tief ist das Wasser selbst. Anfang des 20 . Jahrhunderts fanden Taucher am Grund kostbare Schmuckstücke aus Jade und Gold, aber auch Opfermesser und menschliche Knochen – unter anderem von bedauernswerten Opfern zu Zeiten von Hunger oder Dürre, darunter viele Kinder. Dieser cenote sagrado gab der Stadt ihren Namen, denn Chichén Itzá bedeutet Brunnen der Itzá – also derjenigen der vielen Maya-Völkerschaften, die nach dem Kollaps der klassischen Städte der Gottkönige politisch, wirtschaftlich und religiös tonangebend wurden.
Sosehr Chichén Itzá profitierte vom Drama aus Kriegen, Dürre und Hunger, das sich weiter südlich abgespielt hatte, sosehr ließ sich das neue Schwergewicht unter den Maya-Städten das Geschehene eine Lehre sein. Statt gottgleicher, aber nunmehr als fehlbar geouteter Könige setzte man erfolgreich auf einen neuen Politikstil. Die Macht wurde aufgeteilt, um Entscheidungen sachgerechter treffen zu können, Herrscher mit göttlich legitimierter Alleinherrschaft gab es nicht mehr. In Chichén Itzá lässt sich das eindrucksvoll nachvollziehen an der Tatsache, dass plötzlich keine Bilder und keine Lobpreisungen der Könige mehr existieren, auch wenn vermutlich weiterhin einzelne Herrscher an der Spitze des Staates standen. Entscheidungen jedoch wurden im größeren Kreis getroffen, in Ratsversammlungen, in denen eine politische Elite das Sagen hatte – sie könnten in der »Gruppe der tausend Säulen« getagt haben.
Diese vergleichsweise neue Regierungsform, die in einigenklassischen Städten allerdings schon erprobt worden war – wenn auch zu spät, um den Untergang noch abwenden zu können –, besaß den gewichtigen Vorteil, sich auch in den Augen des verunsicherten Volkes von der durch den Städtekollaps weiter südlich diskreditierten Institution des Gottkönigtums abzusetzen. Gleichzeitig ermöglichte das Neue und Pragmatische daran die politische, wirtschaftliche und religiöse Dynamik, die es brauchte, um die Umbruchzeit zu gestalten und zu dominieren.
Als Machtbasis diente Chichén Itzá der enorme wirtschaftliche Erfolg, der die Stadt ja überhaupt erst aufsteigen ließ zum strahlenden Zentrum eines Wirtschaftsimperiums, das es so in den Maya-Landen noch nicht gegeben hatte. Allenfalls Teotihuacán in Zentralmexiko war Vergleichbares gelungen. Die Voraussetzungen für den Aufsteiger aus Yucatán hatten die Chontal-Maya gelegt, die den expandierenden Handel entlang der Küste des Golfs von Mexiko dominierten, als die untergehenden Städte nicht nur ein politisches, sondern auch ein wirtschaftliches Vakuum hinterlassen hatten. Darauf bauten die zuziehenden Itzá-Maya auf, die mit militärischen Mitteln ihre wirtschaftliche Macht durchsetzten – benachbarte Städte hatten das Nachsehen und erlebten ihren Niedergang. Sie wurden zu Vasallenstaaten degradiert, deren Adelsfamilien Geiseln stellen mussten, um sie im Fall der Unbotmäßigkeit in Chichén Itzá stellvertretend maßregeln zu können. Erfolgreich errichtete Chichén Itzá Monopole auf die wichtigsten Handelsgüter, vor allem Kakao, Salz und Baumwolle, aber auch Obsidian, Jade und Vulkanasche, und kontrollierte die Handelswege. Mehr und mehr des Handelsvolumens wurde jetzt nicht länger über den beschwerlichen Landweg abgewickelt (die Maya kannten zwar das Rad, benutzten es aber nicht), sondern in großen Booten entlang der Küsten auf dem Seeweg. Chichén Itzá kontrollierte die wichtigsten Seehäfen und konnte damit direkten Einfluss auf Handel und Handelswege ausüben.
Die Religion wurde dem wirtschaftlichen Wohl dienstbar gemacht. In Chichén Itzá nahm das Religiöse einen internationaleren Charakter an, so wie sich die Stadt insgesamt zu einer kosmopolitischen Metropole entwickelte, in der Menschen aus allen Teilen Mittelamerikas lebten und arbeiteten. Ein weithin bekannter und anerkannter Wallfahrtsort zu sein hatte schon einer anderen Wirtschaftsmetropole
Weitere Kostenlose Bücher