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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Geschäftsstraße entlangrollten, fügte Jane Fanshawe hinzu: «Sie hat Glück, diese Sophie. Glück, wieder auf den Füßen gelandet zu sein. Glück, einen Mann wie dich gefunden zu haben.»
    «Ich sehe es eigentlich andersherum», sagte ich. «Du solltest nicht so bescheiden sein.»
    «Das bin ich nicht. Ich weiß nur, wovon ich rede. Bisher war das ganze Glück auf meiner Seite.»
    Sie lächelte – kurz, rätselhaft, so als hielte sie mich für einen Dummkopf, und doch irgendwie nachsichtig. Es war ihr bewusst, dass ich mir keine Blöße geben würde. Als wir einige Minuten später ihr Haus erreichten, schien sie ihre anfängliche Taktik fallenzulassen. Sophie und Ben wurden nicht mehr erwähnt, und sie übertraf sich selbst in ihrer Besorgtheit. Sie sagte mir, wie froh sie sei, dass ich das Buch über Fanshawe schreibe, und tat so, als machte ihre Ermutigung wirklich etwas aus – als wäre sie eine Art endgültiger Billigung nicht nur des Buches, sondern auch dessen, was ich war. Dann gab sie mir ihre Autoschlüssel und erklärte den Weg zum nächsten Fotokopierladen. Das Mittagessen, sagte sie, werde auf mich warten, wenn ich zurückkomme.
    Ich brauchte mehr als zwei Stunden, um die Briefe zu kopieren, sodass es beinahe ein Uhr war, als ich zurückkehrte. Das Mittagessen war tatsächlich fertig, und es war ein wahrlich fürstliches Mahl: Spargel, kalter Lachs, verschiedene Käsesorten, Weißwein, alles, was dazugehört, und alles auf dem Tisch im Speisezimmer gedeckt, mit Blumen und dem offenbar besten Geschirr. Die Überraschung muss sich in meinem Gesicht gespiegelt haben.
    «Ich wollte es festlich haben», sagte Mrs. Fanshawe. «Du machst dir keine Vorstellung, wie gut es mir tut, dich hier zu haben. All die Erinnerungen, die zurückkehren. Es ist, als ob die schlimmen Dinge nie geschehen wären.»
    Ich vermutete, dass sie schon angefangen hatte zu trinken, während ich fort gewesen war. Sie hatte sich noch unter Kontrolle, und ihre Bewegungen waren noch sicher, aber sie hatte eine schwere Zunge und sprach mit zittriger Stimme. Als wir uns an den Tisch setzten, ermahnte ich mich aufzupassen. Der Wein wurde in großzügigen Mengen eingeschenkt, und als ich sah, dass sie ihrem Glas mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihrem Teller, in den Speisen nur stocherte und sie schließlich gar nicht mehr anrührte, machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Nach einem seichten Gespräch über meine Eltern und meine beiden jüngeren Schwestern wurde aus der Konversation ein Monolog.
    «Es ist seltsam», sagte sie, «seltsam, wie sich alles im Leben verändert. Von einem Augenblick zum nächsten weiß man nicht, was geschehen wird. Da bist du nun, der kleine Junge von nebenan. Du bist dieselbe Person, die mit schmutzigen Schuhen durch dieses Haus rannte – jetzt erwachsen, ein Mann. Du bist der Vater meines Enkels, ist dir das klar? Du bist mit der Frau meines Sohnes verheiratet. Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, das sei die Zukunft, würde ich gelacht haben. Das ist es, was man letzten Endes vom Leben lernt: wie eigenartig es ist. Man kann dem, was geschieht, nicht folgen. Man kann es sich nicht einmal vorstellen. Du siehst sogar so aus wie er, weißt du. Das war immer so, ihr beide wart wie Brüder, beinahe wie Zwillinge. Ich erinnere mich, dass ich euch manchmal von weitem verwechselte, als ihr noch klein wart. Ich konnte nicht sagen, welcher von euch beiden meiner war. Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, wie du zu ihm aufgeschaut hast. Aber ich will dir etwas sagen, mein Lieber. Er war nicht annähernd so wie du. Er war innerlich kalt. Er war tot dadrinnen, und ich glaube nicht, dass er einmal jemanden liebte – nicht ein einziges Mal, nie in seinem Leben. Ich habe manchmal dich und deine Mutter im Garten beobachtet – wie du zu ihr liefst und ihr die Arme um den Hals warfst, wie du dich von ihr küssen ließest. Vor meinen Augen konnte ich alles sehen, was ich mit meinem eigenen Sohn nicht hatte. Er ließ sich von mir nicht berühren, weißt du. Schon im Alter von vier oder fünf Jahren wich er jedes Mal aus, wenn ich in seine Nähe kam. Was glaubst du, wie sich eine Frau fühlt, wenn ihr eigener Sohn sie verachtet? Ich war damals noch so verdammt jung. Ich war noch nicht einmal zwanzig, als er geboren wurde. Stell dir vor, wie einem zumute ist, wenn man so zurückgewiesen wird. Ich will nicht sagen, dass er schlecht war. Er sonderte sich ab, war ein Kind ohne Eltern. Nichts, was ich sagte, hatte

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