Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
keine Zeit gelassen, diese zu ergänzen. Die Menschen in Methymna beäugten die Gublas Stolz misstrauisch, doch als sie erkannten, dass die Ankömmlinge keine Achäer waren, gaben sie sich freundlich. Denn auch hier hatten die Plünderungszüge des Achilleus deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Verkohlte Balken und rußgeschwärzte Mauerreste erinnerten noch immer an den Besuch der schrecklichen Myrmidonen des achäischen Helden, und viele Familien beklagten erschlagene Söhne und geraubte Töchter.
Seshmosis war froh, als sie die bedrückende Atmosphäre der Stadt wieder hinter sich lassen konnten und erneut in See stachen.
Der Schreiber fragte sich, ob nun die Zeit der furchtbaren Abenteuer endlich vorbei sei und sie in die heimatlichen Gefilde zurückkehren würden. Dem Krieg war er entronnen, doch noch galt es, den jungen Skamandrios und den Dichter Homeros in Sicherheit zu bringen.
Und auch die Rückkehr in die eigene Gegenwart bereitete ihm Sorgen. Deshalb beschloss Seshmosis, sich an GON zu wenden. Als er seinen Schlafplatz erreichte, wartete die kleine rot getigerte Katze bereits auf ihn.
»Herr, du weißt, was mich bekümmert«, begann Seshmosis. »Die schrecklichen Erlebnisse bedrücken mich, und ich wage mir gar nicht vorzustellen, was jetzt gerade in Troja geschieht. Vor allem aber sorge ich mich darum, wie es mit uns weitergehen wird. Werden wir Byblos jemals wieder erreichen?«
»Hast du Angst vor dem Tod, mein lieber Seshmosis?«, fragte die Katze.
»Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich habe einfach nur Angst zu sterben.«
»Dann wird es dich sicher beruhigen, wenn ich dir sage, dass dies in nächster Zeit nicht geschehen wird. Deine Aufgabe ist es jetzt, dafür zu sorgen, dass Homeros und Skamandrios an ihren Bestimmungsort gebracht werden. Allerdings befürchte ich, dass dies noch eine Zeit lang dauern wird. Das Meer ist in Aufruhr, weil einige Götter sehr, sehr zornig sind. Und es ist nicht nur Poseidon, der vor Wut rast. Die Götter des Olymps liegen wegen der Ereignisse in Troja miteinander im Zwist. Es ist für Menschen nie gut, wenn sich die Götter streiten.«
»Wie soll ich mich verhalten, und was soll ich tun?«, fragte Seshmosis unsicher.
»Bleib gelassen und vertrau bei allen Problemen auf deinen Instinkt. Du bist äußerst überlebenstüchtig, mein getreuer Prophet. Sei dir dessen immer bewusst.«
Mit einem leisen Plop verschwand die Katze, und Seshmosis' Anspannung löste sich langsam auf. Ausgerechnet in diesem Moment verlosch das Sonnenlicht, das durch die Fenster der Ruderbänke gefallen war, und es wurde stockfinster.
Seshmosis tastete sich Richtung Luke zum Deck, als er jemanden laut rufen hörte: »Was ist passiert! Was soll ich nur machen?«
Uartus Stimme schrie zurück: »Hände weg vom Steuer! Was immer wir tun, ist mit Sicherheit falsch!«
Seshmosis beschloss, den Rat von GON zu befolgen und sich in Gelassenheit zu üben. Vielleicht war die Finsternis ja ein Zeichen dafür, dass sie gerade jetzt in ihre eigene Zeit zurückkehrten.
Nach vielen Stunden unnatürlicher Dunkelheit wurde es schlagartig wieder hell. Neugierig ging Seshmosis an Deck. Die Sonne neigte sich im Westen schon zum Horizont, als die Gublas Stolz im sanften Abendlicht eine Insel mit mächtigen Küstenwäldern ansteuerte.
In der geschützten Bucht ankerten zwölf Schiffe. Die Augen am Bug wiesen sie eindeutig als achäische aus. Als die Tajarim näher kamen, erkannte Seshmosis, dass bei einem der rostroten Schiffe Bug und Rammsporn einen blauen Schnabel bildeten. Es war zweifelsfrei das Flaggschiff von Odysseus. Seshmosis' Hoffnung, in die Vergangenheit, die seine Gegenwart war, zurückgekehrt zu sein, hatte sich zerschlagen. Schlimmer noch: Da Odysseus eigentlich noch in Troja sein musste, konnte dieser unmöglich vor ihnen diese Insel erreicht haben. Die Gublas Stolz war also noch weiter in die Zukunft gesegelt.
*
Odysseus tobte. Vor zwei Tagen hatte er Kundschafter ins Landesinnere ausgeschickt, und sie waren noch immer nicht zurückgekehrt. Nach den bösen Erfahrungen bei ihrer letzten Landung in Ismaros, der Stadt der Kikonen, bei der sie zweiundsiebzig Männer verloren hatten, rechnete der Fürst von Ithaka mit dem Schlimmsten.
Da meldete ein Wachposten die Ankunft eines fremden Schiffs, und Odysseus ging zum Strand. Neugierig beobachtete er die Landung der Ankömmlinge. Zu seiner Überraschung kannte er das Schiff: die Gublas Stolz der merkwürdigen Händler aus Phönizien.
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