Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
einander zu und gingen dann langsam zu einem Tisch in einer Nische im Halbdunkel. Raffim hörte einen kurzen, spitzen Schrei. Dann das dumpfe Geräusch eines fallenden Körpers.
Kurz darauf kamen die Fremden wieder aus der Nische. Sie blickten sich kurz im Raum um und verließen ihn gleich darauf ohne ein Wort, so wie sie ihn betreten hatten.
Raffim beschloss, seine Suche nach Henoch unverzüglich abzubrechen und die Taverne sofort zu verlassen. Eine Begegnung mit Vertretern der zu erwartenden Stadtwache musste er unbedingt vermeiden.
Ziemlich gehetzt und beunruhigt lenkte Raffim seine Schritte zum Hafenbecken. Er wollte den eben erlebten Mord schnell vergessen, und der Anblick ihres gemeinsamen Schiffs Gublas Stolz brachte ihn auf andere Gedanken.
Zerberuh beaufsichtigte gerade mit Argusaugen das Beladen.
Einst hatte die Gublas Stolz mit Soldaten bemannt als Wachschiff des Fürsten in den Gewässern vor Byblos gekreuzt. Doch der hatte es sich leisten können, seine Flotte zu erneuern, und so war das altgediente Schiff zur Renovierung in die Hände der Zimmerleute gelangt. Über den Rumpf waren schon die Bohrwürmer hergefallen, sodass viele Planken der Erneuerung bedurft hatten. Auch der große Rammsporn am Bug hatte abgesägt werden müssen, denn eine derartige Bewaffnung war Handelsschiffen verboten.
In der Mitte Galeere ragte ein Mast auf, den an der Spitze eine Mondsichel zierte, das Wappen von Byblos. Bei Flaute oder ungünstigen Winden konnten bis zu zwanzig Ruderer das Schiff dennoch voranbringen. Am Heck und auf dem Vorderschiff befanden sich nun Zeltaufbauten, die Passagieren und Besatzung Schutz boten. Unter Deck gab es indessen genügend Stauraum, der eine Handelsfahrt lohnend machte.
Der Stoffhändler Mani und sein Sohn Ben Mani standen mit einigen Ballen auf dem Vorderschiff, das vor Raffim aufragte. Als Fracht für diese Reise hatte sich Mani auf dunklen Wegen ganz erlesene Ware besorgt. Sogar wertvolle Purpurstoffe und Seide aus den Ländern jenseits von Babylon befanden sich darunter.
Raffim dachte daran, den für seine Waren vorgesehenen Stauraum zu inspizieren. Doch als er den schmalen, schwankenden Holzsteg sah, nahm der übergewichtige Mann schnell von diesem Ansinnen Abstand. Man sollte sich nicht einer Gefahr aussetzen, die man vermeiden konnte. Stattdessen rief er nach oben: »Heute Nachmittag kommt meine Ladung. Lasst mir bloß genügend Platz übrig!«
Dann machte er kehrt und ging Richtung Oberstadt nach Hause. Leider wich die Vorfreude auf die zu erwartenden Gewinne der Handelsreise schnell wieder düsteren Gedanken angesichts der Erinnerung an den Todesschrei in der Taverne.
*
Maduk, der Kommandant der Stadtwache von Byblos, steckte in einer Zwickmühle. Im Hafenviertel schlichen zwei Gestalten umher, die zwar einen Teil seiner eigenen Arbeit sehr effektiv erledigten, aber andererseits konnte er nicht dulden, dass Fremde Bewohnern seiner Stadt einfach die Kehle durchschnitten.
Engidu, der Assyrer, den man in der übel beleumundeten Taverne Baals Rachen umgebracht hatte, war nun schon das dritte Opfer seit dem vergangenen Abend.
Maduk fuhr sich mit den Fingern durchs graue Haar, auf das er sehr stolz war, denn kein Kommandant der Wache vor ihm hatte es geschafft, im Dienst zu ergrauen. Seine Vorgänger verprassten entweder ihre Bestechungsgelder im Ausland oder lagen als Helden in der Nekropole von Byblos in einem bescheidenen Grab.
Zweifellos waren Kain, Jakub und Engidu üble Burschen gewesen, deren Tod keinen Verlust für die Stadt bedeutete. Aber es waren deine üblen Burschen gewesen. Maduk mochte es gar nicht, wenn man ihm ins Handwerk pfuschte.
Auch wenn er es nach außen hin nicht zeigte, interessierte es Maduk doch brennend, wer da im Hafenviertel unter den Mitgliedern der Schatten von Byblos wütete. Der Kommandant beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und einige seiner Informanten zu befragen.
*
Amentet erlebte die größte Ansammlung von Göttern seit Bestehen des Totenreichs. Anubis hatte geladen, und fast alle waren seiner Einladung gefolgt. Die geringen Götter sowieso, die kamen immer, um ihrer Bedeutung Ausdruck zu verleihen. Und von den hohen Göttern fehlte nur Osiris. Natürlich, dachte sich Anubis. Der Herr Obergott ist sich wieder einmal zu fein für einen Besuch.
Dabei lag es keineswegs an Anubis, dass Osiris auf die Teilnahme verzichtete. Er verzichtete grundsätzlich auf Festivitäten jeglicher Art, er hasste sie regelrecht.
Weitere Kostenlose Bücher