Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
beim Kopieren sein. Aber mein Kontaktmann ist verschwunden, mitsamt den Rollen und den Kopien.«
Seshmosis erbleichte. Die Sache stand schlimmer, als er befürchtet hatte.
»Das hört sich gar nicht gut an. Klingt so, als hätte ein Dieb einen Dieb bestohlen. Wer ist denn dein Kontaktmann?«
»Sein Name ist Henoch, und er arbeitet auch für die Frau aus Timna, die alle vier Rollen möchte. Eine gewisse Zippora.«
»Timna, Timna?« Seshmosis dachte scharf nach. »Wenn ich mich recht erinnere, zog die Hyksosgruppe von Moses und Aaron nach Timna, in die Stadt der Kupferminen.«
»Ja, sie leben und streiten dort schon seit zwei Jahren um die wahre Glaubenslehre. Die eine Hälfte der Hyksos betet zu einem gewissen Schasu-YHW, einem midianitischen Sturm- und Kriegsgott, die andere Hälfte zu Hathor, die sie in der Gestalt eines Goldenen Kalbes verehren. Zippora ist die Tochter des Jethro, eines Priesters von Schasu-YHW. Ihr Mann, der Hyksosführer Moses, gründet derzeit eine neue Religion, und Zippora glaubt wohl, dass sich mit Hilfe unserer Rollen die Gunst der Gläubigen ihm zuneigen wird. Die gute Frau möchte seine Religion auf eine solide Grundlage stellen.«
»Oh! Unser lieber Raffim engagiert sich in Glaubenskonflikten. Du lässt wirklich nichts aus, womit Geld zu verdienen ist«, spottete Seshmosis.
»Im Prinzip ja. Aber jetzt bin ich wütend. Ich hasse es, wenn man mich betrügt.«
»Und ich hasse es, wenn man mich bestiehlt!«
Seshmosis überlegte kurz, dann unterbreitete er Raffim einen Kompromiss: »Du schaffst die Heiligen Rollen wieder herbei, egal wie. Und zwar die Originale, nicht irgendwelche Kopien! Der Handel mit den Kopien sei dir erlaubt.«
Raffim atmete erleichtert auf, doch Seshmosis fuhr fort. »Für die Erlaubnis, unsere Heiligen Rollen zu kopieren und zu verkaufen, zahlst du fünfzig Prozent der Einnahmen in die Tempelkasse von GON. Schließlich sind die Rollen seit Generationen im Besitz meiner Familie, das Urheberrecht liegt also bei mir. Und jetzt verschwinde und sorge dafür, dass die Rollen wieder auftauchen!«
»Fünfzig Prozent ist Wahnsinn«, wandte Raffim ein. »Da komme ich kaum auf meine Kosten.«
»Kein Feilschen! Fünfzig Prozent, oder es gibt keinen Handel.«
Raffim schwieg bedrückt, jedoch keineswegs wegen seines schlechten Gewissens, sondern wegen der in Zukunft zu entrichtenden Abgaben und der damit verbundenen immensen Verluste im Handel mit den religiösen Schriften. Wortlos verließ er das Zimmer.
*
In den frühen Abendstunden fanden Mitglieder der Stadtwache im Hafenviertel den Leichnam eines gewissen Kain von Hebron. Der amtsbekannte Kriminelle galt als ein führender Kopf der Verbrecherbande Schatten von Byblos. Er lag mit durchschnittener Kehle in seinem Blut in einer Seitengasse, und auf seiner Stirn war ein Mal eingebrannt, das einen Stierkopf darstellte. Der zuständige Kommandeur ging von einem Bandenkrieg aus, der die übrige Bevölkerung nicht berührte. Weitere Untersuchungen des Mordfalls galten daher als überflüssig.
*
Der Himmel zeigte bereits die Mitternachtsgestirne, als GON erschien. Er stand als kleiner Stier auf seinem hölzernen Schrein.
»Seit wann besitze ich eine Tempelkasse?«, wollte er wissen.
»Seit heute, Herr. Ich bin der Meinung, Raffim sollte den Gewinn aus dem Verkauf der Rollenkopien nicht allein einstreichen. Wie das Geld verwendet wird, liegt selbstverständlich in deinem Ermessen.«
Seshmosis griff in seine Gewandtasche, holte das Amulett hervor und hielt es dem kleinen Stier unter die Nüstern. »Herr, bitte verrate mir die Bedeutung dieser Zeichen.«
GON, respektive der dreißig Zentimeter große Stier, schnaubte.
»Darf ich dich erneut darauf aufmerksam machen, dass ich weder lesen noch schreiben kann? Ich bin schließlich ein Gott! Meine Worte formen sich nicht zu Zeichen, sondern zu Wirklichkeiten.«
»Schade, ich hoffte, du könntest mir helfen, Herr.«
Resigniert steckte Seshmosis das Amulett in die Tasche zurück.
»Solltest du mich nicht noch etwas anderes fragen, Seshmosis?«
Der Tonfall des Stierleins klang erwartungsvoll.
»Da du die Frage anscheinend schon kennst, kannst du mir ja gleich die Antwort sagen. Du willst diese Gauner doch nicht etwa auf ihrer Handelsreise begleiten, oder?«
»Oder! Ich muss bei dieser Reise dabei sein. Und du wirst mich, wie immer, begleiten. Schon um deiner selbst willen. Du kannst schon anfangen, deine Sachen zu packen.«
»Warum, Herr? Ich bin hier
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