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Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Titel: Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Scherm
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Insel der Seligen
     
    Etwas später als geplant erlebte der Hafen von Byblos die größte Ansammlung von Tajarim seit deren Ankunft zwei Jahre zuvor. Vielen der Anwesenden waren die Spuren der durchfeierten Nacht noch anzusehen, allen voran Raffim, der schrecklich verkatert aussah. Aber Barsil und Mani standen ihm nicht viel nach.
    Seshmosis hatte am frühen Morgen mit großer Erleichterung die Heiligen Rollen von Raffim entgegengenommen und sie Shamir, dem Bäcker, zur sicheren Aufbewahrung in Byblos anvertraut. Er wollte die wertvollen Dokumente auf keinen Fall den Gefahren einer Reise aussetzen, und Shamir war ihm über die Zeit ein treuer, zuverlässiger Freund geworden. So balancierte der Schreiber nun über den Bootssteg aufs Schiff, unter dem einen Arm sein Bündel, unter dem anderen GONs Schrein.
    Die Schiffseigner der Tajarim AG standen allesamt am Bug, wo Zerberuh bedeutungsvoll, doch von allen ignoriert Kommandos erteilte. Der Flussschiffer verfügte zwar über jahrzehntelange Erfahrung auf dem Nil, aber das Hochseesegeln war ihm völlig fremd. Vor zwei Jahren hatte er Byblos nur mehr zufällig, sich die Küste entlangtastend und mit gnädiger Hilfe etlicher Götter erreicht.
    Raffims drei Diener verschwanden ebenso unter Deck wie die anderen ruderpflichtigen Reiseteilnehmer Tafa, Mumal, Elimas, Almak, Aruel und Elihofni. Unterstützung würden sie von sechs phönizischen Seeleuten erhalten, die man zusammen mit dem Steuermann Uartu angeheuert hatte. Letzterer war der wirkliche Kapitän des Schiffs.
    Insgesamt beherbergte die Gublas Stolz vierundzwanzig Besatzungsmitglieder und Passagiere. Die Eigner hatten bewusst auf die übliche Sollstärke an Ruderern verzichtet, um mehr Platz für Ladung zu gewinnen.
    Der erste Streit unter den am Bug stehenden Besitzern entbrannte noch vor dem Auslaufen, als es um die Verteilung der Schlafplätze unter den Zeltaufbauten ging. Kalala beharrte darauf, dass das Oberdeck des Hecks ausschließlich für sie und ihren Gefährten El Vis reserviert sei. Raffim argumentierte, dass Kalala für zwanzig Prozent der Anteile unmöglich fünfzig Prozent der besten Schiffsfläche zustünden. Es sei mit dem Gleichheitsprinzip unvereinbar, dass sie allein das Heck beanspruche, die anderen Eigner sich aber zu viert den Bugaufbau teilen müssten. Schließlich siegte Kalala mit ihrem überzeugenden Plädoyer: »Ich bin die einzige Frau an Bord und weigere mich, mit anderen Männern zu schlafen als mit El Vis! Außerdem bringen Frauen an Bord bekanntlich Unglück. Da wollt ihr mir doch sicher nicht zu nahe sein, oder?«
    Von all dem bekamen die Tajarim, die sich zur Verabschiedung im Hafen eingefunden hatten, nichts mit. Als sich nun die Gublas Stolz mit kräftigen Ruderschlägen Richtung Hafenausfahrt in Bewegung setzte, winkten die Menschen und riefen: »Gute Fahrt!« und »Auf Wiedersehen!«
    Seshmosis stand wehmütig an der Reling und blickte auf Byblos. Dort, auf der obersten Stufe der in Terrassen angelegten Stadt, hatte er seine neue Heimat gefunden, Sicherheit und ein bequemes Nachtlager. Von diesem Glück hieß es nun für unbestimmte Zeit Abschied nehmen. Doch seine Wehmut verflog schneller, als ihm lieb war, denn sie passierten jenseits der Kaimauer den schwarzen kretischen Segler. Beklemmung ergriff Seshmosis, und er bemühte sich angestrengt, in eine andere Richtung zu schauen. Krampfhaft interessiert betrachtete er die gegenüberliegende Hafenfestung, die trutzig gegen die See stand. Erst als das Segel der Gublas Stolz gesetzt war und sie Fahrt aufnahmen, wagte er wieder einen Blick zum kretischen Schiff. Zu seiner Beruhigung lag es unverändert vor Anker und wurde zusehends kleiner, je länger sie nach Westen fuhren.
     
    *
     
    Der Gebäudekomplex des Großen Gerichts war mit Abstand der imposanteste in ganz Amentet. Die gewaltige Fassade ragte zehn Stockwerke in die Höhe, und sie war schwärzer als schwarz. In jahrelangen, einsamen Experimenten in der Wüste hatte Seth diese ganz spezielle Farbe entwickelt, und nicht einmal die Götter wagten zu fragen, woraus sie gemacht war. Die meterhohen erzenen Tore öffneten sich automatisch, wenn ein Verstorbener eine Stunde lang davor gestanden hatte. Eine Stunde kann zermürbend lang sein, vor allem, wenn man soeben verstorben und in Amentet angekommen ist. Obwohl Thot, der Gott der Gelehrsamkeit und des Wissens, stets behauptete, die Erfindung der sich wie von Geisterhand öffnenden Tore sei »eine seiner leichtesten Übungen«

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