Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
seine Gabe. Schon nach einer Woche beeindruckte Glaukos den ganzen Hofstaat mit seinen Künsten. Da ersuchte der Seher den König, Knossos verlassen zu dürfen, und der Minos willigte ein. Zum Abschied bat Polyidos den Knaben, ihm in den Mund zu spucken. Dann ging er fort.
Als Glaukos jedoch wieder einmal dem Publikum sein Können demonstrieren wollte, war die Gabe des Sehers verschwunden. Er hatte sie ihm ohne sein Wissen zurückgegeben. Der Minos tobte und ließ nach Polyidos suchen, doch der listige Seher war unauffindbar. Dennoch hoffte der König, dass die Gabe des Wahrsagens eines Tages zu Glaukos zurückkehren werde, spätestens an dem Tag, an dem der Prinz zum neuen Minos ernannt würde.
Der Minos kehrte aus seinen Erinnerungen zurück und nahm den Gesprächsfaden wieder auf.
»Ich weiß, Katreus und Deukalion werden es nicht hinnehmen, dass Glaukos mein Nachfolger wird. Aus ihrer Sicht ist meine Wahl ungerecht. Ich bin den Göttern dankbar, dass ich dann schon tot sein werde, wenn sie sich in die Haare geraten.«
»Ich danke Euch für Euer Vertrauen, edler Minos. Ihr lenkt meinen Blick auf Dinge, die ich bisher nicht wahrgenommen habe«, bedankte sich Seshmosis.
»Schon gut, junger Mann. Es tut gut, sich einmal aussprechen zu können, ohne auf jedes einzelne Wort achten zu müssen. Ich hoffe, dass es mein Nachfolger leichter haben wird. Zumindest habe ich den ›Trank des Vergessens‹ abgeschafft. Nie wieder soll ein Mensch so leiden wie ich, der ich weder Vater noch Mutter kenne, sondern nur Eltern, gesponnen aus Mythen und Legenden. So vornehm es klingen mag, der Sohn des Zeus zu sein, ein richtiger Vater wäre mir lieber. Jeder künftige König von Kreta soll seinen Namen behalten. Der Titel ›Minos‹ soll bleiben, doch stets verbunden mit dem eigenen Namen des Königs.«
»Eine weise Entscheidung«, lobte Seshmosis.
»Ich bin müde, werter Seshmosis. Bitte führ mich in mein Gemach«, bat der alte König, und Seshmosis bot ihm seinen Arm als Stütze an.
Auf dem Weg zu den Privatgemächern des Königs begegneten sie einer Gruppe schwarz gekleideter Soldaten mit schwarzen Maskenhelmen. Sofort spürte Seshmosis ein heftiges Ziehen im Bauch, und sein Magen verkrampfte sich. Die Bewaffneten beäugten ihn misstrauisch, und auch der Minos schien Seshmosis' Nervosität zu spüren, sagte aber nichts. Der Schreiber verfluchte sich zum wiederholten Mal, dass er das geheimnisvolle Amulett erworben hatte.
Zurück in seinem Quartier, rief Seshmosis GON an, der sogleich erschien, und zwar als auffällig gefleckter Leopard.
»Herr, kann es sein, dass ein Mann wie ich eine Prinzessin liebt?«
»Du kannst alles lieben, wonach dir der Sinn steht, Seshmosis.«
»Ich meine, ist es möglich, dass sie meine Liebe erwidert?«
»Alles ist möglich, vor allem in der Liebe, obwohl ich mich damit nicht so gut auskenne.«
»Die Liebe scheint mir als das höchste Glück, das ein Mensch auf Erden erreichen kann.«
Der kleine Leopard schüttelte weise das Haupt.
»Zu mir sagte einmal ein Ozelot: ›Die Liebe! Ein Jahr Feuer und Flamme und dann dreißig Jahre Asche.‹ Klingt für mich nicht wie das höchste Glück.«
»Dein Freund scheint nicht die richtige Frau getroffen zu haben. Mit der Richtigen ist es bestimmt anders!«
»Ich wünsche dir, dass du die Richtige triffst, mein lieber Seshmosis. Aber erst mal solltest du dich um andere Dinge kümmern als um die Liebe.«
»Ich verstehe nicht. Was kann wichtiger sein als mein Glück?«
»Dein Leben vielleicht? Was auch immer in nächster Zeit geschehen wird, vertrau auf mich, auch wenn ich nicht so frei agieren kann, wie ich möchte. Poseidon blickt nämlich argwöhnisch auf diese Insel, und wenn ich als fremder Gott hier wirke, zieht er sofort alle anderen Olympier auf seine Seite. Ich werde dir aber auf jeden Fall mit meinem Rat helfen.«
»Danke, Herr, so sei es!«
*
Als Seshmosis am Abend zum Theater eilte, versperrte ihm unerwartet Nostr'tut-Amus den Weg. »Ich muss ganz dringend mit dir reden, Seshmosis!«
»Nicht jetzt, lieber Freund. Ich möchte frühzeitig im Theater sein, um einen guten Platz beim Konzert zu bekommen.«
In Wirklichkeit ging es Seshmosis nicht um einen guten Platz beim Konzert, sondern um einen guten Platz in der Nähe von Ariadne.
»Es ist aber wichtig! Enorm wichtig!«, bestürmte der Seher ihn und zog ihn hastig in einen Seitengang. Nostr'tut-Amus sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann flüsterte er
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