Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
studierte die Bild- und Schriftzeichen des Bauplans. Ohne Zweifel sollte der Holzhaufen neben ihm einmal ein Schiff werden. Kleine Bildchen zeigten, wie man welche Teile in welcher Reihenfolge zusammenbauen sollte. Außerdem gaben Keilschriftzeichen eindeutige Anweisungen, was man zu tun hatte:
»Herzlichen Freudenwunsch! Du kauft Schiff von großer artiger Vollkommenheit was einfach ist montierbar. Befolgen unbedingt Anleitung naturgetreu in kleinste Buchstaben. Den Mastast in Planken Zentrum versenkt mit Bugspriet tauen nicht vor Festmachung von Keil von Holz am Heck. Dann spulen bis Tauwerk Ende an Bord von Steuer. Niemals rechts! Sonst Segelbrett im Kiel rauschen. Weil Schiff weiblich Rammsporn Aufpreis kosten extra. Kein Haftung für gar nichts wenn nicht Anleitung folgen dieses wahrhaftig!«
Seshmosis sah die Bilder an, dann sagte er: »Du hast recht. Es sind Idiotgramme. Wo hast du das überhaupt her?«
»Vor ein paar Tagen kam eine Karawane mit kleinen, gelben, schlitzäugigen Händlern mit großen Karren und riesigen Kisten darauf hier vorbei. Sie verkauften alles Mögliche, auch diesen Schiffsbausatz. Und weil mein altes Schiff von Bohrwürmern versenkt wurde, habe ich zugegriffen. Alles ganz praktisch und ganz einfach. Die Verpackungsbretter bilden zugleich die Schiffsplanken. Sieh hier!«
Seshmosis näherte sich dem provisorischen Bug und las die Keilschrift: »Gemacht in Han-Tan, Chao.«
Dann trat Seshmosis einige Schritt zurück, um das ganze Chaos mit einem Blick erfassen zu können und gleichzeitig seinen Rückzug vorzubereiten.
»Mir scheint, da liegt noch viel Arbeit vor dir, mein lieber Nautos.«
Der Bastler stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. »Dass immer mir so etwas passieren muss! Vor drei Jahren kaufte ich einen Schiffsbausatz von einem Nordmann namens Ikeas. Das Schiff fiel schon beim Stapellauf auseinander.«
»Was war passiert?«
»Anscheinend fehlten einige Teile. Wichtige Holzdübel im unteren Bereich des Rumpfes, vermute ich. Und Reklamation machte natürlich keinen Sinn, weil dieser Ikeas schon längst wieder über alle Berge war.«
Seshmosis wünschte Nautos noch viel Glück bei seinen Bauarbeiten und schlenderte weiter. Bald erreichte er eine kleine Holzhütte, vor der ein offensichtlich blinder Mann mit einer Schriftrolle in der Hand saß.
Irritiert und neugierig zugleich trat Seshmosis näher. Der Blinde hörte ihn und rief Seshmosis zu: »He, du da! Ich kenne deine Schritte nicht, du bist ein Fremder! Was willst du?«
»Verzeih mir, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin wirklich fremd hier. Mein Name ist Seshmosis und ich bin ein Schreiber aus Byblos.«
»Ein Schreiber, sagst du? Das trifft sich gut. Ich bin ein Dichter. Homeros ist mein Name. Tritt näher und nimm Platz!«
Seshmosis setzte sich neben den blinden Dichter und sagte: »Du bist offensichtlich blind, und dennoch sitzt du mit einer Schriftrolle hier, die du doch gar nicht lesen kannst. Warum tust du dies?«
»Um einen wie dich anzulocken. Einen, der sich darüber wundert, weil er selbst lesen kann. Und das kannst du ja wohl als Schreiber.«
Seshmosis war verblüfft. Die Schriftrolle war der Köder und er selbst der Fisch, der angebissen hat. Er betrachtete Homeros genauer, dann fragte er vorsichtig: »Homeros, mir scheint, du leidest nicht schon seit deiner Geburt an Blindheit. Wer raubte dir das Augenlicht?«
»Ein Fürst, der die Dinge, die ich beschrieb, anders sah als ich. Er meinte, ein Augenzeuge solle sich besser auf seine Ohren verlassen.«
»Welch grausame Tat! War es einer der Achäer?«
»Er hat mir geboten, darüber zu schweigen. Andernfalls würde meine Zunge vor mir die Seelen im Hades langweilen. Bitte dringe nicht weiter in mich ein, ich möchte noch erleben, wie die Geschichte hier endet.«
»Aber wie kannst du die Geschichte denn aufschreiben, wenn du doch blind bist?«, fragte Seshmosis.
»Dazu brauche ich einen Gehilfen. Und da mein letzter Gehilfe gerade von uns gegangen ist, frage ich dich, ob du nicht seinen Posten annehmen würdest. Ich bezahle dich auch dafür, und du kannst bei freier Kost und Logis bei mir wohnen.«
Seshmosis überlegte. Die Aufgabe reizte ihn, und solange die Tajarim hier waren, gab es für ihn sowieso nichts zu tun. Etwas Abwechslung und geistige Beschäftigung würden ihm sicher nicht schaden.
»Ja, lieber Homeros, ich will dein Schreiber sein, solange meine Freunde hier ankern. Doch noch eine Frage: Du sprachst von deinem letzten
Weitere Kostenlose Bücher