Die Nomadengott-Saga 03 - Die Weltenbaumler
lauerte Ratatöskr im Wurzelwerk beim Mimirsbrunnen. Er wusste, dass Odin früher oder später hierherkommen würde. Der Eichkater musste unbedingt mit dem Allvater reden. Er wollte seinen Freunden helfen, das war er ihnen einfach schuldig.
Endlich erschien Odin. Müde setzte er sich auf einen Stein am Rand des Brunnens. Sofort wetzte Ratatöskr über die gemauerte Einfassung und blieb direkt vor dem Asen stehen.
»Bist du nicht ein Geschöpf Lokis?«, fragte Odin verwundert.
»Nein, bewahre, Göttervater! Er machte mich zu dem, was ich bin, doch einst war ich ein Mensch. Jetzt bin ich der Bote im Baum und werde Ratatöskr genannt.«
»O ja, man hat mir einiges von dir zugetragen. So klein wie du bist, so verschlagen scheinst du zu sein. Bist du sicher, dass Loki nicht dein Vater ist?«
»Ganz sicher, Erdenlenker!«, behauptete Ratatöskr.
»Nun gut, lassen wir das. Warum hast du es darauf angelegt, mich hier zu treffen?«
Der Eichkater wunderte sich, aber dann akzeptierte er, dass ihn Odin durchschaut hatte. Götter scheinen doch einige besondere Gaben zu besitzen, dachte er sich und fuhr laut fort:
»Es geht um die Tiere, Rabenvater. Ich vermisse sie, und sie vermissen Asgard. Sie würden gerne zurückkehren, aber sie trauen sich nicht.«
»Die Tiere, so, so. Meine Raben vermisse ich sehr, bin fast blind ohne sie«, sagte Odin mehr zu sich selbst. »Die Wagen stehen nutzlos auf dem Idafeld, weil niemand da ist, sie zu ziehen.«
»Das könnte ich ganz schnell ändern, Allvater. Sag einfach, dass sie in Asgard willkommen sind und keiner sie bestrafen wird.«
»Harte Worte werden sie schon von mir hören. Man kann nicht die Götter in der entscheidenden Stunde ihrem Schicksal überlassen. Sie alle müssen mir und den anderen Asen die ewige Treue geloben, dann sollen sie straffrei sein.«
»Die Abmachung gilt! Ich eile, es meinen Freunden zu verkünden.«
Lange sah Odin dem davonhuschenden Eichkater nach. Dann sagte er zu sich: »Die Dinge laufen manchmal anders als geplant, und auf einmal ist Ratatöskr wichtiger als Ragnarök.«
*
Den ganzen Tag waren die Tajarim stromaufwärts dem Lauf des Flusses gefolgt, der bei Husavik ins Meer mündet. Noch mussten sie kein Heu mit sich führen, da das Land genug Futter für die Tiere bot. Erst ab dem Mückensee würde das Gras immer weniger werden, bis es schließlich ganz der lebensfeindlichen Lavawüste wich.
Diesmal war die Karawane der Tajarim auf sich selbst gestellt, kein Führer zeigte ihnen, wie sie in dem fremden Land zurechtkommen konnten. Denn Raffim und Barsil als Hauptfinanziers des Unternehmens hatten sich hartnäckig geweigert, Geld für einheimische Kräfte auszugeben. Schließlich sei man selbst in der Lage, einem Flusslauf zu folgen, bis sie auf einen See stießen. Dort angekommen, könne man sich gern über das Thema »Kosten für Führer« unterhalten.
Bald schon brannten zwei Feuer oberhalb des Flusses. An einem saßen Barsil, Raffim und Zerberuh als die »großen Geldgeber« samt ihrem Personal Mumal, Aruel, Jabul, Jebul und Jubul. Am anderen Feuer hatten es sich Seshmosis, Nostr'tut-Amus, Elimas und Sampo so gemütlich wie möglich gemacht.
»Erzähl mir mehr von euren Runen!«, bat Seshmosis den Samen.
»Was soll ich dir sagen? Runen sind mehr als nur Schriftzeichen, sie sind Magie. Odin selbst schenkte sie den Menschen.«
»Aber ihr benutzt die Zeichen doch auch, um Dinge aufzuschreiben oder nicht?«, wandte der Schreiber ein.
»Wir schreiben nichts auf! Entweder betreiben wir Zauber mit den Runen oder wir dichten mit ihnen. Niemals würden wir damit die Zahl unserer Schafe notieren. Das wäre Blasphemie!«
»Gut gesprochen, junger Skalde.«
Ein alter Mann trat aus dem Dunkel in den Schein des Feuers und nahm unaufgefordert Platz.
»Magst du mit uns speisen?«, fragte Seshmosis.
»Nein, danke, mein Hunger ist ein anderer. So wenig wie du das bist, was du zu sein scheinst, Wolfsmensch, bin ich es.«
Wie durch Zauberei hielt er auf einmal eine Kantele in der Hand.
»Singen will ich euch. Nur deshalb komme ich in dieser Nacht.«
Erstaunt sahen sich die Tajarim im Feuerschein an, doch ließen sie den ungewöhnlichen Besucher gewähren, der zart in die Saiten griff und zu singen anhob:
»Es sagte die Riesin:
Nimmer darfst du
dreist betreten
die steingestützten
Stätten mein.
Solltest lieber
Leinwand weben,
statt zu folgen
fremden Gatten.
Was wanderst du
vom Wallande,
heilloses Haupt,
zur Halle
Weitere Kostenlose Bücher