Die Nonne und die Hure
Erfahrungen aus oder bringen Bilder italienischer Maler über die Alpen, zum Beispiel von Michelangelo, Leonardo da Vinci, Raffael, Tizian und Bellini. Umgekehrt kommen die Bilder Dürers oder der Niederländer hierher nach Italien.«
»Das weiß ich alles«, antwortete Christoph. »Es gibt etwas, das uns die italienischen Maler voraushaben. Sie entwerfen nicht einfach ein Bild nach der Natur, einem Modell oder ihrem Gedächtnis, sondern sie hauchen ihm Leben ein. Licht und Schatten, Eros und Leid – das alles kann einKünstler ausdrücken, wenn er nur Gefühl in das hineinlegt, was er schafft.«
Eine Gruppe von Neuangekommenen riss sie aus ihrem Gespräch. Die Leute waren offensichtlich angetrunken, denn sie rülpsten, ließen sich krachend auf den Bänken nieder und stierten zu ihnen herüber. Einer der Männer, der in dickes graues Leinen gekleidet war, kam Christoph bekannt vor. Neben ihm saß eine junge Frau. Sie war etwa siebzehn Jahre alt, grell geschminkt und trug an ihrem Dekolleté, das sie verführerisch zur Schau stellte, eine teuer wirkende Spitze. Blonde Haare lockten sich um ihre Schultern. Ihr Gesicht war madonnenhaft: Über den graugrünen Augen erhoben sich Augenbrauen, die wie Vögel im Fluge wirkten, eine kleine, wohlgeformte Nase und ein herzförmiger Mund, den sie immer wieder halb traurig, halb spitzbübisch verzog.
Christoph sah sich den Mann näher an, und jetzt wusste er, woher er ihn kannte. Er hatte ein teigiges Gesicht, in dem ein gezwirbelter Schnurrbart das Auffälligste war. Der Mann hatte kein Barett auf dem Kopf, trug auch kein seidenes Hemd, kein Wams, sondern war in die schäbigen grauen Leinensachen der armen Leute gehüllt. Die großen Füße steckten in klobigen Stiefeln. Er rief etwas auf Deutsch zum Wirt hinüber, blickte sich um und erkannte in diesem Moment Christoph. »Ja, ich bin’s, der Alois Breitnagel«, lallte er mit schwerer Zunge. »Ihr wundert Euch wohl, mich noch unter den Lebenden zu finden. Aber warum sollt nur Ihr Glück haben? Gott hat sich auch meiner erbarmt.«
Christoph antwortete nicht, sondern schaute den Bayern voller Mitleid und Abscheu an.
»Heute bin ich im Fondaco angekommen«, fuhr Alois Breitnagel fort. »Und was macht dieser Direktor? Er herrscht mich an, weil das Gut verlorengegangen ist. Und er will mir kein Obdach gewähren.«
»Damit hat er auch recht getan«, erwiderte Christoph. »Euer Verhalten am Brennerpass war unverantwortlich. Ihr seid ein Unmensch, Ihr habt den Tod von etlichen Menschen auf dem Gewissen! Außerdem habt Ihr in der Nacht herumgeschnüffelt und Geld gestohlen.«
Breitnagel lachte dröhnend. »Ich soll ein Unmensch sein? Da denken die schönen Frauen Venedigs aber anders drüber, nicht wahr, Nanna?« Er strich dem Mädchen neben ihm über die Wange und kniff sie dann.
»Au, du tust mir weh!«, rief sie.
Breitnagel achtete nicht darauf, sondern winkte nach einer weiteren Kanne Bier und trank in tiefen Zügen. Bierschaum lief ihm das Kinn herab. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck; seine Züge nahmen einen weinerlichen Ausdruck an. »Ich weiß nicht, wo ich heute Nacht mein müdes Haupt betten soll«, jammerte er.
»Du kommst zu mir«, sagte die junge Frau neben ihm.
»Nanna, meine geliebte Hure«, sagte der Dicke zärtlich und griff ihr unter den Rock.
»Nenn mich nicht Hure«, begehrte das Mädchen auf. »Ich bin von guter Herkunft, das weißt du.«
»Wo hast du die deutsche Sprache gelernt?«, fragte Alois Breitnagel.
»Viele Deutsche kommen, um sich mit uns auszutauschen«, gab sie schlagfertig zurück.
Die anderen Mädchen und Männer am Tisch lachten aus vollem Hals. Breitnagel stand schwankend auf und verschwand, von der jungen Frau gestützt, in der Nacht.
Die Tischgesellschaft löste sich allmählich auf. Christoph und Hans ließen ihre Becher noch einmal füllen.
»Was war das für ein Mann? Woher kennst du ihn?«, wollte Hans wissen.
»Ich bin mit einer Gruppe von Rottfahrern über die Alpen gekommen. Breitnagel war der Leiter der Gruppe –durch seine Fehlentscheidung wurden alle von einer Gerölllawine verschüttet. Ich konnte mich retten und dachte bis jetzt, ich sei der Einzige gewesen. Ob ich mich darüber freuen soll, dass er überlebt hat, weiß ich nicht so recht.«
»Er ist der ewige Geldsack, nicht wahr? Wie war noch sein Name?«
»Alois Breitnagel.«
»Diesen Namen habe ich schon im Zusammenhang mit Geldgeschäften der Fugger erwähnen hören. Auf jeden Fall dürfte er im
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