Die Novizin
jegliche moralische Autorität verloren. Wieder einmal musste ich mich geschlagen geben. Wieder einmal hatte Bruder Subillais mir seine geistige und theologische Überlegenheit bewiesen. Doch die Tatsache, dass ich ihn im Streitgespräch nicht widerlegen konnte, bedeutete keineswegs, dass ich seine Auffassung teilte.
Ich war aufgewühlt und nachdenklich. Als Knabe hatte Aimery Maurand sich auf Geheiß seines Vaters und ohne eigenes Wissen vor einem Parfait verbeugt. Diese Sünde rechtfertigte meiner Ansicht nach nicht die Anwendung von Folter. Ich dachte daran, dass Jesus die Sünden der Menschen auf sich genommen und für die Menschen gelitten hatte, und fragte mich plötzlich, ob Maurand am Ende nicht vielleicht größere Gnade vor seinen Augen finden würde als wir.
Ich behielt diesen Gedanken natürlich für mich, auch wenn es mich quälte, nicht mit meinem Ordensbruder darüber sprechen zu können. Doch wie ich schon einmal dargelegt habe, war aus Bruder Subillais, seit wir Toulouse verlassen hatten, ein anderer Mensch geworden. Ich hegte schlimme Befürchtungen für den armen Maurand, auch wenn ich ihn nicht sonderlich schätzte. Noch mehr aber fürchtete ich den Moment, in dem mein Ordensbruder den Fall des Bürgers abschließen und seine Aufmerksamkeit wieder auf Madeleine de Peyrolles richten würde.
*
Gott allein weiß, wie oft ich versuchte, Madeleine de Peyrolles aus meinen Gedanken zu verbannen. Ich hatte geglaubt, mich durch die Reinigung meiner Seele von der fleischlichen Begierde auch von der Sehnsucht befreien zu können. Aber ich hatte mich geirrt. Und nun quälten mich auch noch Schuldgefühle, denn ich wusste, was sie im Kerker zu erleiden hatte.
Als Bruder Subillais Madeleine in eine Einzelzelle werfen ließ, erhob ich keine Einwände. Aber innerlich zerriss es mir das Herz. Meine Gefühle waren dermaßen stark, dass sie mir körperliche Pein verursachten. Ich verspürte unerträgliche Schmerzen in Brust und Magen, bekam Schweißausbrüche und Kopfstechen. Es war, als hätte ich Madeleine verraten, anstatt ihre Seele zu retten.
Ich zog mich in die Kapelle des Château zurück, um durch Andacht und Gebet mein Gewissen zu erleichtern.
Die Wände schienen Jahrhunderte alten Weihrauchduft zu atmen. Eine Statue der Heiligen Jungfrau glänzte im Licht der Kerzen, von denen lange schwarze Rauchfäden hinauf in das dunkle Deckengewölbe stiegen – wie Gebete zum Himmel.
Die Flammen flackerten in einem kühlen Luftzug und die Kälte der Steine unter meinen Knien drang mir bis in die Knochen. Aber ich verharrte über drei Stunden dort, von der None bis zur Komplet, bis meine Gliedmaßen so steif waren, dass ich sie nur unter Schmerzen zu strecken vermochte. Doch mein Geist hatte keine Ruhe gefunden, und Gott hatte nicht zu mir gesprochen.
An jenem Abend sagte ich mir wieder und wieder, dass ich ein Mitglied des Predigerordens war, ein Schüler des seligen Dominik, und dass ich in erster Linie Gott zu dienen hatte. Mehr noch als andere Frauen hatte Madeleine de Peyrolles die Sünden Evas auf ihr Haupt geladen, denn sie hatte einen Priester dazu verleitet, sein Keuschheitsgelübde zu brechen.
Was also war es, das mich nach der Komplet die ausgetretenen Stufen zum Kerker hinunter trieb? Fleischeslust? Gott bewahre. Bußfertigkeit? Nein, ich hatte meiner Reue bereits stärkeren Ausdruck verliehen als jeder andere Mann.
Vielleicht war es die Zuneigung, die ich immer noch für Madeleine empfand. Was für ein abtrünniger Mönch ich doch war! Ich hatte den Auftrag, in diesen Bergen die Sünde auszurotten, dabei vermochte ich sie mir noch nicht einmal selbst aus dem Herzen zu reißen.
*
Anders als das Château Narbonnais in Toulouse verfügte die Burg von Saint-Ybars lediglich über eine einzige Gemeinschaftszelle, da die Zahl der Gefangenen hier nie besonders groß war. Auf dem Boden dieses murus largus befanden sich Falltüren, durch die man in die darunter liegenden, aus dem Grundgestein herausgehauenen Einzelzellen gelangte. Die Insassen dieser muri stricti wurden mit Fußfesseln an den Fels gekettet und dann ihrer Einsamkeit sowie vollkommener Dunkelheit überlassen. Der Aufenthalt in einem murus strictus war als Strafe für jene vorgesehen, die nur ein lückenhaftes Geständnis abgelegt oder aus dem Kerker zu fliehen versucht hatten.
Ganach, der Kerkermeister, sperrte eine der Falltüren auf. Mit einer Kerze in der Hand stieg ich die steilen Stufen in die Zelle hinab. Die Tür
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