Die Novizin
anderer hielt seiner Dame einen Becher an die Lippen und sagte: »Lasst einen Kuss daran zurück, dann bedarf ich des Weines nicht mehr.« Ich hoffte, dass er den Kuss bekommen würde, denn nach meinem Eindruck hatte er bereits mehr als genug Wein getrunken.
Während ich dies mit ansah, hätte ich weinen mögen, weil diese Seelen sich durch ihr gottloses Benehmen so weit von unserem Herrn entfernt hatten.
Dennoch muss ich gestehen, dass dieses Mittagsmahl weniger erschütternd war als andere Festessen, an denen ich teilgenommen hatte, denn anders als im Norden gibt es im Süden Sittenbücher, die angemessene Tischmanieren lehren. In Paris war es nicht ungewöhnlich, wenn Männer ihre Zähne mit dem Tischtuch säuberten, über die Tafel hinweg ausspuckten oder sogar mit den Fingern in den Eiern stocherten. Hier bekam ich nichts Schlimmeres zu Gesicht als einen Mann, der seinen Daumen benutzte, um eine Scheibe Brot mit Butter zu bestreichen.
Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, das sich alle Anwesenden überwiegend schicklich benahmen, wandte ich mich zu meiner Rechten, wo Bruder Donadieu in ein Gespräch mit unserem Gastgeber vertieft war. Sie unterhielten sich natürlich über Madeleine de Peyrolles.
»Kennt Ihr dieses Mädchen?«, hörte ich Bruder Bernard den Seigneur fragen.
»Ja, wir haben es ausführlich befragt. Wir fanden nichts an ihm auszusetzen.«
»Und die Familie?«
»Der Vater ist ein Steinmetzmeister, den wir mit der Reparatur unserer Kirche beauftragt haben. Er legte uns Empfehlungsschreiben der Zunft in Toulouse vor. Die Familie lebt seit drei Jahren hier und hat uns bisher nie Schwierigkeiten bereitet.«
Ich warf einen Blick hinüber zu Eleonore, der Gattin des Seigneurs. Sie war eine stattliche Frau mit aufrechter Haltung, klaren Augen und offenkundiger Intelligenz. Vor intelligenten Frauen muss man sich in Acht nehmen, denn sie setzen ihre Klugheit ausschließlich für schlechte Zwecke ein, wie schon der Heilige Augustinus bemerkte.
»Wir werden eine gründliche Untersuchung dieser angeblichen Vision durchführen müssen«, erklärte ich.
»Ich bin sicher, dass Ihr hier keine Ketzer finden werdet. Das würde ich gar nicht dulden.«
In diesen Tagen wollte selbstverständlich keiner dieser feinen Seigneurs mehr Katharer auf seinem Grund und Boden wissen. Schon der leiseste Verdacht von Häresie genügte, und sie verloren alles, was sie besaßen. Die Adligen des Südens wussten, dass der König beabsichtigte, seinen Machtbereich auszudehnen, und dass ihm die Konfiszierung von Besitztümern dabei ebenso recht war wie jedes andere Mittel.
Plötzlich erklang ein Trompetenstoß, und die versammelten Gäste verfielen in ehrfürchtiges Schweigen. Vier junge Männer stolzierten mit einem riesigen Silbertablett auf den Schultern in die Halle. Auf dem Tablett thronte ein gebratener Schwan in voller Lebensgröße. Die Köche hatten den Kopf mit dem leuchtend gelben Schnabel aufgerichtet und dem Vogel sein Federkleid nach dem Braten wieder angelegt, sodass er absolut lebensecht wirkte. Sie hatten ihn auf einer Art grasgrünen Pastete platziert. Er war von kleinen seidenen Fahnen umgeben, auf denen die Wappen der Häuser de Guiret und Saint Ybars zu sehen waren.
Die Gesellschaft brach in Beifall aus.
Die Diener näherten sich der Haupttafel, verbeugten sich mitsamt ihrer beeindruckenden Last vor uns und schritten dann einmal rund um die Halle, damit die Gäste den Schwan gebührend bewundern konnten, bevor er tranchiert und verteilt wurde. Ich bemerkte, wie der Seigneur erst mir und dann Bruder Donadieu einen Blick zuwarf. Wahrscheinlich glaubte er, uns mit solch verschwenderischem Luxus imponieren zu können.
Seine Gattin hatte mich während des gesamten Mahls beobachtet. Sie fragte sich wohl, wie viel ich über sie wissen mochte. Als Inquisitor wusste ich natürlich alles.
Mir war zum Beispiel bekannt, dass ihr Vater, Roger de Saint Ybars, ein Faidit war, dass er seine Burg sowie seine Ländereien an Simon de Montfort verloren hatte, dass er in Toulouse gegen den König gekämpft hatte und deshalb gezwungen gewesen war, ins Exil zu gehen. Es hieß, dass er später – als der Papst, der König und der Graf von Toulouse einen Vertrag abschlossen, der dem König die Ländereien von Saint Ybars zusicherte – die königlichen Füße geleckt hatte wie ein Hund und für diese Demonstration von Reue mit einer Pension in Höhe von sechshundert Livres tournois sowie der schäbigen Burg von Maurac
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