Die Obelisken von Hegira
aufgenommen hatten.
Eine unbefestigte Straße verlief längs des Außenrandes der Hütten, die sich unterhalb der Mauern drängten. Die Flüchtlinge folgten ihr, immer noch in einem knochenerschütternden Tempo dahinsprengend, und umrundeten die erste größere Biegung der Mauer. Barthel rief von hinten aus: „Sie lassen nicht locker!“
Fünf Minuten später waren sie auf der Nordseite Ubidharms. Ihr Glück hielt weiter an – eine breite, gut gepflasterte Straße führte von der Stadt weg, zog sich entlang des Aquädukts und stieg dann auf in die nördlichen Berge des Uhuru-Massivs. Die Reiter hinter ihnen gaben nach wenigen Kilometern auf. Die Mediwewaner konnten nicht durch die Stadttore – das vordere oder das rückwärtige – herauskommen, bevor eine Verfolgung nicht aussichtslos geworden war.
Bar-Woten verringerte das Tempo, nachdem er sie auf eine unbefestigte Nebenstraße geführt hatte. Sie saßen neben einem sich dahinwälzenden, verschneiten Fluß ab und führten die Pferde im Schritt, bis sie ruhiger und nicht mehr so erhitzt waren. Dann tränkten sie sie mäßig, und Bar-Woten ließ Kiril reiten, während er für einige Kilometer nebenher lief.
Angesichts ihrer erschöpften Vorräte und der kargen Landschaft waren ihre Aussichten für den vor ihnen liegenden Weg nicht gerade rosig. Barthel zählte die Schüsse in den Pistolen und den beiden Munitionsschachteln, die sie in Mediwewa erworben hatten. Sie verfügten noch über gut sechzig Schuß und sieben Pfeile, die zu einem zusammenlegbaren Bogen gehörten, der Teil von Bar-Wotens Ausrüstung gewesen war. „Wir werden sparsam damit umgehen müssen“, sagte Kiril, als die Zählung abgeschlossen war.
„Wir werden nicht in der Lage sein, es auszukämpfen, wenn das überhaupt etwas ist, worüber man sich Gedanken machen muß“, pflichtete Bar-Woten bei. „Aber ich bin ein recht guter Schütze mit der Pistole. Und Ihr?“
„Ein Amateur“, sagte Kiril. „Ihr wart närrisch, mich mitzunehmen. Was kann ich Euch denn nützen?“
„Ihr werdet Eure Bedeutung zur rechten Zeit beweisen“, sagte Bar-Woten. Sie stiegen wieder auf.
„Ich muß nur erst noch ein bißchen größer werden, mh?“ Kiril sagte es voll Zorn, bei dem Gedanken errötend, daß dieser Mann ihn für noch nicht ganz erwachsen halten könnte. Bar-Woten antwortete nicht.
Die Straße wurde von einem Hohlweg zu einem Felssims, der dem Umkreis eines keilförmigen Gipfels folgte, dessen Spitze in den Wolken verschwand. Sie sahen, daß die Hauptstraße, die jetzt fünfzig oder sechzig Meter unter ihnen lag, übergangslos abbrach. „Bisher hat uns unser Glück nicht im Stich gelassen“, sagte Bar-Woten. „Wollen wir also hoffen, daß dieser Weg uns nicht zu einem ähnlich jähen Ende führt.“
8
Der Ibisier schlief sehr spät ein, am ganzen Leibe zitternd und von Wahnvorstellungen von Lagerfeuern und Wärme geplagt. Sie drängten sich eng aneinander; ihre Wolldecken bewahrten sie zwar davor zu erfrieren, als die Nachttemperaturen unter den Gefrierpunkt fielen, aber Behaglichkeit verschafften sie ihnen nicht. Bar-Woten glitt zu wiederholten Malen in einen Traum hinein und dann wieder aus ihm hinaus. Der Traum handelte von seinem Vater und einer Reise zum Obelisken in Ibis. In seiner Erinnerung schien es ihm, als wären sie an den Seen vorbeigekommen, deren Vögel Ibis seinen Namen gaben, große, ausgedehnte Wasserflächen und Wolken weißer Federn, und hätten dann den langen Weg zum Turm genommen, durch die Pflanzungen von Thosala. In dem Traum drängten sich Menschen rings um den Fuß des Turms und starrten an ihm hinauf. Die Wände des Obelisken seien mit Inschriften bedeckt, erklärte ihm sein Vater, aber als sie näher herankamen und sich durch die Menge schoben – die mit berittenen Mediwewanern durchsetzt war, die nach Kindern Ausschau hielten, die sie quälen konnten –, sah er, daß die Wand glatt war. „Das ist ein Zeichen“, sagte eine hochgewachsene Frau in seiner Nähe. „Wenn die Wände weiß werden, bedeutet das, daß es für die Menschen keine weiteren Gründe mehr gibt zu existieren, weil nichts zu lesen übrig ist.“
„Die Bücher“, sagte Bar-Woten laut.
Kiril lugte schläfrig aus seiner eigenen Mumie aus Decken hervor.
„Nein“, sagte die Frau in dem Traum. „Auch deren Seiten sind nun weiß. Kein Grund mehr zu lesen, keine Menschen mehr zu lesen.“
Die Menschenmassen verschwanden langsam, zuerst Arme und Beine, dann die Rümpfe.
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