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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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voraus. Genau genommen ist der Speckring sogar breiter als ihr Hintern. Sie hat die Figur eines Ringers, der außer Form geraten ist.
    »Was ist in dem Koffer?«, fragt Kurbjuweit.
    »Mein Werkzeug«, sagt die Frau und grinst. Sie stellt den Koffer neben den Einsitzer und lässt sich sinken. Ihre Brüste sind über dem vorstehenden Bauch nicht mehr zu sehen.
    »Was für ’n Werkzeug denn?«
    »Wirst ja sehen, Süßer.«
    Kurbjuweit legt Kuchen auf die Teller. Noch läuft alles, wie geplant. Nur – sie hat keinen Hintern.
    »Wo ist das Geld?«
    Kurbjuweit steht auf und holt die Kaffeedose aus der Küche, in der er seine Ersparnisse für diesen Tag aufbewahrt hat. Er schüttet den Inhalt auf den Wohnzimmertisch. Die Frau zählt nach und lässt das Geld in einer Seitentasche des Koffers verschwinden.
    »Hier müsste mal gelüftet werden«, sagt sie dann, als sei sie zu Hause. Sie steht auf und öffnet die Balkontür. Ihr Hintern ist wirklich sehr schmal. Schmal wie ein Jungenhintern.

13. Kapitel
     
    In dem Horst Kurbjuweit ein Neujahrskonzert hört,
das ihn Nerven kostet
     
    Es geschieht am Neujahrsmorgen, in der Zeit, die keine Wochentage kennt. Stell dir vor: Es kommt eine Hexe und du kannst nicht fortlaufen.
    Man erwartet niemanden. Man wünscht keinen Besuch mehr. Man will allein sein. Man will nachdenken über das, was geschehen ist. Aber dann klingelt es und man muss öffnen. Mutter hat immer geöffnet, obwohl auch ihr plötzliche Besuche verhasst waren, Besucher hatten sich anzukündigen, Tage vorher, damit Zeit zum Aufräumen und Saubermachen war, man Kuchen backen oder notfalls besorgen, Kaffee kochen konnte.
    Kurbjuweit gehorcht. Er stemmt sich vom Küchentisch, verharrt, bis die Schlieren vor seinen Augen schwinden, schließt die Tür sorgfältig hinter sich – auch die Wohnzimmertür, die klemmt, muss fest geschlossen sein – schiebt den neuen Karton mit Kevins letztem Einkauf mit dem Fuß beiseite, schlurft die wenigen Schritte zur Eingangstür und öffnet.
    Blinzelnd steht er unter der Tür, wie in einem überbelichteten Bild, geblendet von den Strahlen der flachen Wintersonne. Die Neujahrsluft treibt ihre Eiskristalle in seine Lunge, er sieht drüben die Balkons, an denen das tote Gestrüpp der Sommerblumen hängt, auf denen die schimmelbezogenen Plastikstühle der Bewohner auf den Frühling warten, die Satellitenschüsseln, mit denen die Arbeitslosen die Programme empfangen.
    Vor ihm steht die Stachowiak von oben, in ihren schwarzen Röcken, in ihrem schwarzen Kopftuch, in ihren lehmbesudelten schwarzen Stiefeln, und aus den Falten ihrer Röcke – weiß der Teufel, wie viele es sind, die sich wölben über ihrem Altweiberbauch – zieht sie ihre Hände hervor; an diese behände Bewegung, die nicht passt zu einer Greisin, erinnert er sich später genau, nachdem es vorbei ist und er gebannt hinter zwei verschlossenen Türen im Wohnzimmer verharrt, ihren Verwünschungen und Zaubersprüchen nachhört, gewispert durch das Schlüsselloch, mit einer plötzlich so tiefen Stimme, einer Männerstimme, die nicht ihre sein kann, die doch sonst so hoch und brüchig ist. Wer hat ihr diese Stimme gegeben?
    Die verschränkten Knochen ihrer Hände vor dem eingefallenen Mund steht sie nun vor Kurbjuweit im Laubengang, alles ist schwarz an ihr, schwarz ist sie vom mageren Schädel bis zu den Füßen, schwarz ist sie wie eine alte Krähe, schwarz wie eine Witwe, ›die schwarze Hexe‹ hat Mutter sie genannt. Die Hexe wippt auf ihren Stiefeln, die so schmutzig sind, als käme sie von weit her über die Felder, sie beugt sich vor, genau wie damals, als sie vor Mutters Grab stand, um besser den Lehmklumpen nachsehen zu können, den drei vorgeschriebenen Schaufeln Erde, die sie der Toten, einen unverständlichen Spruch murmelnd, mehr nachwarf als fallen ließ auf den Sarg. Die Stachowiak hatte sich durch die Reihe der Wartenden gedrängt, vorbei auch an ihm, Kurbjuweit, dem Sohn der Toten, dem einzigen Verwandten überhaupt, der doch die dunkle Reihe am Grab hätte anführen müssen, er hätte zuerst die Erde hinabschaufeln und dann die Kondolenzen abnehmen sollen, aber er war noch nie als Erster gegangen, er war immer andern gefolgt.
    Zwischen ihre bläulichen Lippen drückt sie eine Mundharmonika, denn Kurbjuweit hört plötzlich Scherben einer zerbrochenen Melodie, zu der sie sich hölzern wiegt, sie tut wie eine, deren Schoß nach Männern verlangt, sie riecht nach Knoblauch, Zwiebeln und den selbst gestopften

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