Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
den doch gar nicht, oder?«, empörte sich Melitta Thielpape, den Hintern lüpfend.
    Schlüter stand langsam auf. Es war einmal die gute alte Zeit, dachte er, als die Menschen noch das dornige Joch von Herkunft, Armut und Kirchenmoral trugen, Weltkriege führten, ihre Kinder verprügelten, damit sie genug Wut für den nächsten Weltkrieg bekamen, und sich zwischendurch anständig benahmen und ihre Sekundärtugenden pflegten. Als die Frauen noch in Kopftuch und Rock liefen und schwiegen, wenn der Mann sprach. Und jetzt? Jetzt musste jeder allein zurechtkommen. Er umrundete den Schreibtisch.
    »Komm mal mit«, sagte er zu dem Sohn des Versagers und Arschlochs und streckte seine Hand aus. »Ich zeig dir was.«
    Die Mutter war sprachlos, Kevin stand gehorsam auf, ergriff die Hand des Advokaten, eine Spur zutraulicher als für Kinder seines Alters schicklich, und ließ sich von der Front zur Etappe verlegen, nämlich zu Angela ins Schreibzimmer.
    Er werde jetzt eine Zeit lang allein mit der Mutter sprechen, flüsterte Schlüter, während er die Tür öffnete, und er, Kevin, könne sich so lange mit Angela unterhalten. »Die ist nett. Und wieso bist du eigentlich nicht in der Schule?«
    »Krank«, antwortete der Junge.
    »O Mann«, seufzte Schlüter. »Das wär ich auch an deiner Stelle.« Er schob ihn in das Schreibzimmer. Angela kannte sich aus mit Jungen, sie hatte selbst einen Vorschulburschen zu Hause.
    Im Flur atmete Schlüter ein letztes Mal durch, um sich gegen die Tiraden zu wappnen, die nun auf ihn niedergehen würden wie der norddeutsche Hagel, der den Obstbauern die Ernte verdarb. Ihm fiel ein, wo er diese Frau schon gesehen hatte. Im Supermarkt vorletzten Samstag, als er Christa zum Einkauf begleitet hatte. Die Thielpape hatte vor einem Regal gestanden und nach einer Spritzflasche mit einer braunen Masse darin gegriffen, als sie sich plötzlich nach einem kleinen Mädchen umgedreht hatte, das gerade laufen konnte, und geschrien: »Mattleen, du Aasch, geh wech von die Regale!« Und der Junge, der danebenstand, das musste wohl Kevin gewesen sein, hatte gefragt: »Gibt es heute schon wieder Nudeln mit Schokoladensoße?«
    Schlüter verschanzte sich wieder hinter seinem Schreibtisch und eröffnete den zweiten Teil des Gesprächs mit einem Schnellkurs zum Thema Scheidungsrecht, wie er ihn schon hundert Mal gegeben hatte: dass eine Ehe geschieden werde, wenn sie gescheitert sei, und gescheitert sei sie dann, wenn die Eheleute ein Jahr lang getrennt lebten und beide erklärten, geschieden werden zu wollen. Auf Scheidungsgründe komme es nicht an, das Gesetz frage nicht nach Schuld, deshalb habe der Scheidungsrichter an derlei kein Interesse, und er, Schlüter, wolle ebenso wenig davon wissen, das sei Privatsache und nur eine Belastung für ihn. Er wolle nur wissen: Scheidung ja oder Scheidung nein.
    Das sei ihr bekannt, nickte Melitta Thielpape und rückte ihren Steiß zurecht, Scheidung ja, was sonst? Aber Schlüter solle nicht denken, sie lasse sich nur aus Mirnichtsdirnichts und Jux und Dollerei scheiden, sie habe triftige Gründe, sie sei nicht leichtfertig, sie sei keine Auf-und-davon, sie habe sich das lange genug überlegt und …
    »Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Schlüter müde. »Fünf Jahre.«
    »Jetzt bin ich aber platt, woher wissen Sie das denn?«
    »Weil es immer fünf Jahre dauert.« Vom ersten Gedanken bis zum Beschluss. Das sei ein biblisches Zeitmaß. »Wissen Sie das nicht?« Schon Kain habe fünf Jahre überlegt, ob er Abel umbringen wolle, und schließlich habe er es wegen einer Nebensächlichkeit getan. Angeblich weil der liebe Gott, der damals noch unter den Menschen umherspaziert sei – es gab ja erst vier –, die Opfergabe des Bauern Kain, Mais, Flachs und Rüben, keines Blickes gewürdigt habe, um kurz darauf des Hirten Abel Opfer, Fett, Fleisch, Persianerfelle und einen Hammelrücken, was ja, arbeitsmäßig betrachtet, nicht besser sei, begeistert zu belobigen. Bis heute könne man das Motiv dieses Mordes nicht nachvollziehen, denn Mord aus Neid gebe es nicht, sonst müsse ja halb Hollenfleth, denn da wohne sie doch, tot sein, umgebracht aus Neid über das bessere Auto, das größere Haus, die schönere Frau, den tolleren Mann, das fettere Bankkonto … Nein, absolut unplausibel, dieses Motiv, aber er, Schlüter, kenne den wahren Grund dieses alttestamentarischen Mordes: Kain habe Abels schmutzige Fingernägel, seinen Mundgeruch und sein fieses Grinsen nicht mehr ertragen, das sei es

Weitere Kostenlose Bücher