Die Oger - [Roman]
bestimmt noch schlafen. Wenn sie wieder aufwachen, hab ich schon alles ausgekundschaftet.
»Sie sind sehr freundlich. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Tragen«, sagte sie und nahm der Alten einen Weidenkorb ab, in dem eine kleine Pflanzschaufel und eine Hacke lagen. So machten sie sich auf den Weg gen Osten. Unterwegs erzählte ihr die alte Frau, dass sie einmal in der Woche zum Siegeshain pilgerte und dort den Trauerbaum ihres Mannes besuchte. Er war im siegreichen Kampf gegen die Trolle gefallen. Für jeden der Krieger wurde ein Baum gepflanzt und mit seinem Namen versehen. Die Angehörigen pilgerten von Zeit zu Zeit in den Hain, um sie zu ehren. Mit Blumen oder anderen Opfergaben erwiesen sie ihnen ihren Respekt oder ihre Liebe, je nachdem.
Die alte Frau war gut zu Fuß und hatte für ihr Alter eine beachtliche Ausdauer. Lange erzählte sie Cindiel von den vergangenen Schrecken der Trollkriege. Weitgehend stimmten ihre Erinnerungen mit den Geschichten Hagrims überein.
Alles in allem fand Cindiel die Alte nett, und sie war erleichtert, dass deren Redefluss sie zugleich daran hinderte, unangenehme Fragen zu stellen.
Ohne dass Cindiel auch nur eine einzige Antwort geben musste, dichtete die Frau ihr ein komplettes Leben an.
Schneller als erwartet, erreichten sie das Gasthaus. Das recht großzügig gebaute, zweistöckige Holzhaus mit dem einprägsamen Namen »Zum Trollkönig« war gut besucht. Im nahe gelegenen Stall standen rund ein halbes Dutzend Pferde mit dem Wappen des Königs, und vor dem Haus waren vier weitere leichte Reitpferde angebunden. Hinter dem Haus standen zwei große Planwagen von Händlern, die ihre Ware gut versteckt vor neugierigen Augen im Inneren eingeschlossen hatten.
»So, Kleine«, sagte die Alte, »hier ist bestimmt jemand, der deinen Vater kennt, oder weiterhelfen kann, ihn zu finden. Ich muss gehen. Du kommst bestimmt auch ohne mich zurecht.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute, und passen Sie auf sich auf«, verabschiedete sich Cindiel von ihr. Sie schaute der Alten noch einen Augenblick hinterher, doch die Frau drehte sich nicht mehr um, sondern folgte stur dem Weg.
Beim Betreten der Gaststube wunderte sich Cindiel über die Ruhe im Inneren. Niemand saß an den Tischen oder der Theke. Nur der Schankwirt stand hinter dem Tresen und polierte eifrig seine Gläser. Mit einem Blick gegen das Licht kontrollierte er ihren Glanz. Er machte den Eindruck eines gebildeten, wohlhabenden Mannes, der auf sein Äußeres großen Wert legte. Seine Kleidung war sauber und die Schankschürze nicht älter als wenige Wochen. Sofort fiel sein Blick auf Cindiel, die wie angewurzelt vor dem Tresen stand und darauf wartete, angesprochen zu werden.
»Na, Kleines, wie kann ich dir helfen?«
Cindiel hatte sich ihre Geschichte schon zurechtgelegt. Mit einem feuchten Glanz in den Augen trat sie an die Theke.
»Zwei Tage hab ich an der Straße gewartet, und als sie vorbeizogen, bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen«, weinte sie.
»Na, na, was ist denn passiert?«, beruhigte sie der Wirt.
»Ich wohne auf einem Hof, westlich des Siegeshaines«, erzählte sie. »Mein größter Wunsch ist es, einmal den König zu sehen. Ich habe so lange darauf gewartet, und dann habe ich ihn verpasst. Nun bin ich auf dem Weg zum Heerlager, weiß aber nicht, wie es weitergeht.«
Der Wirt lächelte verständnisvoll und füllte ein Glas mit Holunderbeerensaft.
»Das Heerlager ist zehn Meilen von hier entfernt, in nördlicher Richtung. Das ist zu weit für ein kleines Mädchen wie dich.«
Schluchzend kullerten Cindiel die ersten Tränen über die Wangen.
»Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte der Wirt mitleidig.
Hoffnungsvoll schaute Cindiel zu ihm auf.
»Von mir weißt du das nicht, aber es könnte sein, dass der König heute Abend hier in dieses Gasthaus kommt und in unserem besten Zimmer übernachtet«, flüsterte er ihr zu und zeigte dabei die Treppe hinauf.
»Du darfst durchs Fenster sehen, wenn er hier unten seine Mahlzeit zu sich nimmt. Du musst aber draußen bleiben, der König mag nicht unaufgefordert angesprochen werden. Ich lasse den Fensterladen einen Spalt offen.«
»Meint Ihr das ernst?«, stammelte Cindiel.
»Wie ich gesagt habe, aber von mir weißt du das nicht. Haben wir uns verstanden?«
Mit einem glücklichen Gesichtsausdruck wischte sich Cindiel die Tränen aus dem Gesicht.
»Danke, Herr Wirt«, sagte sie, nahm einen großen Schluck Saft und verließ den Schankraum.
Verunsichert durch den
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