Die Operation
sollten versuchen, diesen Zwischenfall kurz zu vergessen«, sagte Daniel. »Wir haben noch eine Menge Vorbereitungen zu treffen. Fangen wir an!«
»Okay«, sagte Stephanie und sammelte ihre Kräfte. »Vielleicht kann ich mich ja besser entspannen, wenn ich mich auf das Packen konzentriere. Aber zunächst einmal sollten wir Peter anrufen, nur für den Fall, dass dieser Kerl auch noch im Büro einbrechen will.«
»Gute Idee«, sagte Daniel. »Aber von Butler erzählen wir ihm nichts. Du hast ihm doch noch nichts gesagt, oder?«
»Nein. Kein Wort.«
»Gut!«, sagte Daniel und griff nach dem Hörer.
Kapitel 10
Sonntag, 24. Februar 2002, 11.45 Uhr
Sosehr sich Stephanie an das sprunghafte Wetter in Neuengland gewöhnt hatte, so überrascht war sie doch angesichts der milden, schönen Witterung am Sonntag. Die Wintersonne spendete zwar nur ein fahles Licht, aber die Luft war warm und der Gesang der Vögel so laut und vielstimmig, als stünde der Frühling schon vor der Tür. Welch ein Unterschied zu ihrem frostigen Nachtspaziergang am Freitagabend, als sie über eine frische Schneedecke vom Harvard Square bis nach Hause gegangen war.
Stephanie hatte Daniels Auto im Parkhaus beim Government Center abgestellt und ging jetzt nach Osten in Richtung North End, einem der hübschesten Stadtviertel von Boston. Es war im Grunde ein Labyrinth aus engen, von drei-und vierstöckigen Backsteinreihenhäusern gesäumten Sträßchen. Im neunzehnten Jahrhundert hatten Einwanderer aus Süditalien sich hier angesiedelt und eine Art Little Italy daraus gemacht, mit allem, was dazugehörte. Immer standen ein paar Leute auf der Straße, die sich lebhaft unterhielten, immer hing der Duft einer köchelnden Sauce bolognese in der Luft. Nach Schulschluss war alles voller Kinder.
Das alles kam Stephanie sehr vertraut vor, während sie die Hanover Street hinunterging, jene Einkaufsstraße, die das Viertel in zwei Teile teilte. Im Großen und Ganzen war sie gerne hier aufgewachsen, in einer netten Umgebung, wo man sich gemeinschaftlich und liebevoll umeinander kümmerte. Das einzige Problem waren diese familiären Dinge gewesen, die sie Daniel kürzlich gestanden hatte. Dieses Gespräch hatte, genau wie das Ermittlungsverfahren gegen Anthony, Gefühle und Gedanken an die Oberfläche gespült, die sie sehr lange unterdrückt hatte.
Vor der offenen Tür des Cafe Cosenza blieb Stephanie stehen. Es gehörte ihrer Familie, und man bekam dort italienisches Gebäck und Eis wie auch den üblichen Espresso oder Cappuccino. Ein Gemisch aus Stimmen, Gelächter und dem Pfeifen und Keuchen der Espressomaschine drang zusammen mit dem Duft nach frisch geröstetem Kaffee auf die Straße. Wie viele Stunden hatte sie in diesem Raum mit dem kitschigen Wandgemälde, das den Vesuv und die Bucht von Neapel zeigte, zugebracht, hatte Cannoli, Eiskrem und das Zusammensein mit ihren Freundinnen genossen. Aber heute kam es ihr vor, als wären seitdem hundert Jahre vergangen.
Wie sie da so stand und ins Innere blickte, wurde ihr klar, wie abgeschnitten sie sich von ihrer Kindheit und ihrer Familie fühlte, abgesehen von ihrer Mutter vielleicht, mit der sie regelmäßig telefonierte. Neben ihrem jüngeren Bruder Carlo, der ins Priesteramt gegangen war - eine Berufung, die ihr ein völliges Rätsel war -, war sie das einzige Familienmitglied, das jemals ein College besucht hatte, von einem Doktortitel ganz zu schweigen. Und fast alle ihrer ehemaligen Schulfreundinnen, selbst die, die anschließend auf die Universität gegangen waren, lebten jetzt entweder im North End oder in einem der Vororte Bostons und hatten Häuser, Männer, schicke Geländewagen und Kinder. Sie hingegen lebte mit einem sechzehn Jahre älteren Mann zusammen, mit dem sie gerade um das Überleben eines neu gegründeten Biotechunternehmens kämpfte, indem sie heimlich einen US-Senator mit einer nicht genehmigten, im Versuchsstadium befindlichen, aber hoffentlich viel versprechenden Heilmethode behandelten.
Stephanie ging weiter die Hanover Street entlang und dachte über die Kluft zwischen ihrem jetzigen und ihrem früheren Leben nach. Sehr interessant, dass ihr das nichts ausmachte. Im Rückblick war ihr Rückzug eine natürliche Reaktion auf das Unwohlsein gewesen, das sie im Zusammenhang mit den Geschäften ihres Vaters und der Rolle ihrer Familie im Viertel empfunden hatte. Sie ertappte sich dabei, wie sie darüber nachdachte, ob ihr Leben vielleicht einen völlig anderen Verlauf genommen hätte,
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