Die Operation
wenn ihr Vater mehr Gefühle gezeigt hätte. Als junges Mädchen hatte sie noch versucht, die Barriere zu durchbrechen, die durch seinen egozentrischen, männlichen Chauvinismus und durch die Dinge, die ihn offensichtlich so stark in Beschlag nahmen, errichtet wurde, aber es war ihr nie gelungen. Diese vergeblichen Versuche hatten mit der Zeit zu einer starken Unabhängigkeit geführt, die sie letztendlich dahin gebracht hatte, wo sie heute war.
Da fiel ihr etwas Eigenartiges auf. Sie blieb stehen. Ihr Vater und Daniel hatten, trotz ihrer offensichtlichen, großen Unterschiede, auch etliche Dinge gemeinsam. Beide waren sie gleichermaßen egozentrisch, beide konnten sie gelegentlich grob bis an die Grenze des Asozialen werden, und beide wurden sie, wenn auch in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen, von einem enormen Konkurrenzdenken angetrieben.
Darüber hinaus war Daniel genauso chauvinistisch wie ihr Vater, nur dass für ihn der Intellekt und nicht das Geschlecht eines Menschen ausschlaggebend war. Stephanie musste innerlich lachen. Wieso war ihr dieser Gedanke noch nie zuvor gekommen? Zumal Daniel, wenn ihn etwas beschäftigte, emotional genauso unzugänglich sein konnte, vor allem seitdem CURE in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Psychologie gehörte zwar nicht gerade zu ihren Stärken, aber womöglich hatte sie Daniel aufgrund dieser Ähnlichkeiten von Anfang an so attraktiv gefunden.
Stephanie ging weiter und nahm sich vor, die Sache noch einmal gründlich zu überdenken, sobald sie mehr Zeit dazu hatte. Jetzt war sie zu sehr mit ihrer Abreise nach Turin beschäftigt, die heute Abend stattfinden sollte. Sie war beim ersten Morgengrauen aufgestanden, um ihre Sachen fertig zu packen. Dann hatte sie den Großteil des Vormittags im Labor zugebracht und hatte Peter genauestens erklärt, wie er mit Butlers Zellkultur verfahren sollte. Zum Glück machten die Zellen gute Fortschritte. Sie hatte die Kultur mit »John Smith« beschriftet, in Anlehnung an Daniels Telefonat mit Spencer Wingate. Falls es Peter irgendwie komisch vorgekommen war, dass sie nach Nassau fuhren und dass er einen Teil von John Smiths Zellen als Stickstoffkonserve hinterherschicken sollte, dann hatte er sich zumindest nichts anmerken lassen.
Stephanie bog nach links in die Prince Street ein und beschleunigte ihre Schritte. Hier fühlte sie sich noch mehr zu Hause, besonders, als sie an ihrer ehemaligen Schule vorbeikam. Das Haus ihrer Kindheit, wo ihre Eltern immer noch wohnten, stand einen halben Straßenzug hinter der Schule auf der rechten Seite.
Das North End war ein sicheres Viertel, dank einer inoffiziellen »Schutzpatrouille«. Immer war mindestens ein halbes Dutzend Menschen auf der Straße, die geradezu süchtig danach waren zu erfahren, was die anderen so trieben. Der Nachteil für Kinder hatte darin bestanden, dass man niemals ungeschoren davonkam, wenn man etwas angestellt hatte. Aber im Augenblick genoss Stephanie dieses Gefühl der Sicherheit. Daniel hatte die Gedanken an den Eindringling vom gestrigen Nachmittag anscheinend überwunden und den Einbruch als unbedeutend für das große Ganze abgetan. Aber Stephanie hatte den Zwischenfall noch nicht vollständig verkraftet, und so genoss sie es, sich in vertrauter Umgebung zu bewegen. Was sie nach wie vor unangenehm berührte, war, dass der Vorfall ihre Zweifel an dem Butler-Projekt noch verstärkt hatte, ohne dass sie genau wusste, warum.
Als sie vor ihrem Elternhaus stand, betrachtete Stephanie das graue Sandsteinimitat, das die Backsteine im ersten Stock verdeckte, das rote Aluminiumvordach mit der weißen Kante über der Haustür und die knallig bunt gestrichene Heiligenstatue aus Gips, die in einer Nische stand. Sie musste lächeln, weil sie erst so spät gemerkt hatte, wie schäbig dieser Zierrat eigentlich aussah. Früher hatte sie ihn überhaupt nicht wahrgenommen.
Stephanie hatte zwar einen Schlüssel, aber sie klopfte an und wartete ab. Sie hatte vom Büro aus angerufen und ihren Besuch angekündigt. Es war also keine Überraschung. Einen Augenblick später riss Thea, ihre Mutter, die Tür auf und hieß sie mit offenen Armen willkommen. Theas Großvater war Grieche gewesen, und so hatte es sich im Lauf der Jahre eingebürgert, die weiblichen Vornamen der Familie - auch Stephanies - an der mütterlichen Tradition zu orientieren.
»Du hast bestimmt Hunger«, sagte Thea und trat einen Schritt zurück, um ihre Tochter in Augenschein zu nehmen. Für ihre Mutter war
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