Die Opfer des Inzests
daß die Katastrophe noch größer wäre, wenn sie sich bei jemandem
beklagte. Ihr, der kleinsten, oblag es, die Familie zu retten.
Und das hat sie tapfer getan.
Sie hat nie darüber gesprochen.
Heute ist sie verheiratet und hat wie
ich einen kleinen Sohn. Auch wenn sie von einer Depression in die andere
verfällt, hat sie mir versichert, daß weder ihr Mann noch ihr Sohn je von dem
Drama erfahren werden, das sie bis heute quält. Sie findet als Ehefrau und
Mutter keinen Frieden, aber Lisie wird die ihren niemals verraten.
»Auf diese Weise habe ich das Gefühl,
trotz allem eine normale Kindheit gehabt zu haben. Ich möchte die Erinnerung
nicht beschmutzen«, rechtfertigt sie sich.
Als ich versucht habe, ihr klar zu
machen, daß sie den Schmerz nie loswerden wird, solange sie schweigt, hat sie
nur leicht den Kopf geschüttelt.
Da habe ich nichts mehr gesagt.
___________Éric___________
Érics Geschichte zu erzählen fällt mir
am schwersten. Ich dachte, der Inzest beträfe nur Mädchen, bis ich Érics
Geschichte hörte. Ich hatte mir bis dahin nicht vorstellen können, daß auch
kleine Jungen ein ähnliches Martyrium erleiden könnten. Diese Erkenntnis hat
mich derart erschüttert, daß ich nicht sicher bin, die richtigen Worte gefunden
zu haben, diesem verzweifelten Jugendlichen zu helfen. Und dabei ist es ihm
noch schwerer gefallen als den anderen, sich mir anzuvertrauen. Die Abscheu vor
sich selbst, die Schuldgefühle, schienen mir bei ihm noch traumatisierender als
bei seinen Leidensgenossinnen.
Éric ist 17 Jahre alt. Er ist groß wie
ein Mann, aber sein Gesicht, das ebenso blaß ist wie seine Haare, wirkt noch
kindlich. Seinen Zügen fehlt es an Ausdruck, und er sieht einem nicht in die
Augen. Er geht sehr steif. Während andere Jungen in seinem Alter Sport treiben
und sich entfalten, ist offensichtlich, daß Éric nie gewagt hat, sich diesem
Vergnügen zu widmen. Er bestätigt es mir: Für ihn ist es lebenswichtig, die
Existenz seines Körpers zu verleugnen. Tatsächlich kann ihn nichts, keinerlei
Beschäftigung, von den schmerzlichen Erinnerungen ablenken, die ihn unablässig
quälen.
Éric ist elf, als sich in seiner
Familie etwas ereignet, was sein Leben auf den Kopf stellt. Er ist noch ein
Dreikäsehoch, aber welches Selbstvertrauen! In dem Viertel von Pau, in dem
seine Eltern leben, kennt ihn jeder. Die Leute machen sich einen Spaß daraus,
schlagfertige Konter zu provozieren, man nimmt seine Streiche mit einem Lächeln
hin und bombardiert den kleinen Besserwisser, der sich ebenso für Ameisen
interessiert wie für interplanetare Reisen, mit Prägen. Außerdem ist er auch
noch Kapitän seiner Fußballmannschaft.
Wenn Éric nicht in der Schule ist,
spielt er draußen auf der Straße. Aber als verwöhnter kleiner Junge geht es ihm
weniger darum, dem Elternhaus zu entkommen und sich neue Preiräume zu erobern,
als die kleinsten Details seiner Umwelt in Besitz zu nehmen. Vor dem Obstbaum
spielt er Himmel und Hölle. Die Ritzen zwischen den Steinplatten auf dem
Bürgersteig zeichnen das Spielfeld vor. Ein kleines Eisengitter über einem
Kanal stellt auf natürliche Weise den »Himmel« dar. Im Rinnstein errichtet er
Dämme und Windmühlen. Unter idealen Umständen sammelt sich das Wasser in den
Spalten zwischen den abgenutzten Steinplatten und reicht bis an den
Bürgersteig, so daß große schmutzige Pfützen den Frisörladen oder das
Wartezimmer des Zahnarztes überschwemmen, die etwas tiefer liegen.
Ein Gewirr alter Gassen mit unzähligen
Hauseingängen und Toreinfahrten bildet für Éric und seine Freunde die Kulisse
für endlose Versteckspiele. Nur die Rufe der Mütter, die ihre Kinder zum Essen
holen, unterbrechen für einige Weile die Schreie, das Gelächter und die
Rempeleien. Aber wie sehr er auch in das Spiel vertieft sein mag, ist Éric nie
der letzte, der an Mutters Rockzipfel zurückkehrt. Denn zu Hause ist er der
König. Er ist das Nesthäkchen, das seine Eltern nicht mehr erwartet haben.
Seine Streiche ziehen leere Androhungen von Strafen nach sich und provozieren
häufiger Lachanfälle als erzieherisch sicher vernünftigere Schimpftiraden.
Der älteste Sohn, Igor, ist mit dem
Rucksack auf Weltreise gegangen. Auf Postkarten, die von immer weiter fort
eintreffen, versichert der Weltenbummler den Eltern, daß er guter Dinge und bei
bester Gesundheit sei. Éric bekommt von seinem großen Bruder zahlreiche und
detaillierte Briefe. Ihm sind die leidenschaftlichen
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