Die Opferstaette
entziffern, die teils verblasst und teils hinter der Notiz verborgen war. Hummer und andere Schalentiere kamen vor, genau wie weniger edle Süßwasserfische wie Karpfen, Rotfeder oder Hecht – Arten, die mehr dem osteuropäischen Geschmack entsprachen.
»Ich gehe zur Rückseite«, sagte ich.
Kendrick stieß ein leises Stöhnen aus. »Ich komme mit«, sagte er resigniert.
Nur bei einem Fenster auf der Rückseite war die Jalousie oben, und man sah in die Küche. Bei einem zweiten war sie nicht ganz heruntergelassen, und ich spähte unter ihr in einen Vorratsraum. Es gab Säcke mit Mehl und Reis, Dosen mit Anchovis, Olivenölflaschen. Und unter einem Kieferntisch, auf dem sich Pappkartons stapelten, stand eine weitere blauweiße Kühlbox.
Wenn sie die leeren abgeholt hatten, warum dann nicht diese hier? Was wurde darin aufbewahrt? Keine Schalentiere, das stand fest. Sie wären in kürzester Zeit tot und würden zum Himmel stinken.
»Wir müssen da hinein«, sagte ich.
Kendrick hörte mich nicht. Er war mit Jammermiene herumgeschlichen, hob nun vorsichtig den Deckel einer großen Mülltonne an und sah hinein. »Gott, was für ein Gestank«, sagte er.
»Machen Sie sie bitte noch einmal auf.«
»Muss das sein?«
»Ich will mich nur von etwas überzeugen.«
Kendrick hielt sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu und hob den Deckel an.
Ich nahm den ekelerregenden Geruch von verwesendem Fisch und darunter die unverkennbare Note toter Schalentiere
wahr – eine toxische Ausdünstung, für die das Wort Gestank noch beschönigend ist.
Ich überwand den Drang, den Kopf abzuwenden, und sah hinein.
Teile der Außenskelette von Krabben und Hummern lagen wie Tonscherben herum. Häufchen schwarzer Muschelschalen und Gehäuse von Garnelen schmorten in einer widerlichen Brühe aus nicht gegessenem Fleisch, abgenagten Rückgraten und rohen Fischköpfen.
Ich wich zurück, machte Kendrick ein Zeichen, den Deckel zu schließen, und holte tief Luft, da ich unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Ich beugte mich vor, stützte die Hände auf die Knie und hoffte, mich nicht übergeben zu müssen.
»Was zum Teufel sollte das?« Kendricks Kopf ruckte vor und zurück wie ein außer Kontrolle geratenes Metronom.
»Ich habe nachgesehen …«
»Was?«
»Ob es wirklich nur Fisch ist.«
Kendrick sah sich um, als rechnete er damit, dass jemand mit Kamera und Mikrofon auftauchte und ihm eröffnete, das alles sei nur ein abgekarteter Streich.
»Nur Fisch?«, sagte er. »Was haben Sie erwartet? Das ist immerhin ein Fischrestaurant hier.« Er versuchte, so rational wie möglich mit der Situation umzugehen.
Ich begann zu kichern.
»Ich möchte in das Restaurant gehen«, sagte ich, als ich wieder gerade stehen konnte.
»Kommt nicht infrage. Ich beteilige mich nicht an einem Einbruch.«
Wir hörten das Geräusch beide gleichzeitig.
Wir befanden uns auf der Giebelseite des Gebäudes, die von der Straße aus zu sehen war, und eine schwitzende Frau
mittleren Alters war von ihrem Fahrrad gestiegen und schob es über den Parkplatz auf uns zu.
»Es hat nicht offen«, sagte sie hilfsbereit.
»Äh … ach so, danke«, sagte Kendrick, berührte seine Brille und lächelte.
Wir gingen zu der Frau, um mit ihr zu reden. Ich bemerkte, dass sie einen Plastikeimer auf dem Gepäckträger hatte, über dessen Rand etwas wie ein gekräuseltes, gelbgrünes Salatblatt schaute.
»Ist das Irisch Moos?«, fragte ich.
»O ja. Ich musste weit radeln, um es zu sammeln. Aber jetzt bin ich gleich zu Hause.« Sie nickte in Richtung der anderen Straßenseite, wo kaum hundert Meter entfernt ein Häuschen stand, das ich vorhin beim Vorbeifahren nicht bemerkt hatte.
Kendrick sah in den Eimer. »Was machen Sie damit?«
»Ich bleiche es. Dann bereite ich ein Mus daraus zu, das ein bisschen wie Pudding ist. Sehr gut für die Brust und für Erkältungen im Winter.«
»Bestimmt ein altes Rezept«, sagte ich.
»Ich habe es von meiner Großmutter. Und die von ihrer. Aber ich bezweifle, dass sich meine Enkeltöchter noch mit so etwas abgeben werden.« Sie seufzte. »Heutzutage ändert sich so vieles. Der Laden da«, sie sah zu dem Restaurant hinüber, »gehört zum Beispiel Ausländern.« Sie lächelte Kendrick süßlich an. »Ich meine echten Ausländern.«
Der Engländer erwiderte ihr Lächeln.
»Wissen Sie, wie der Besitzer heißt?«, fragte ich.
»Nur, dass der Name mit einem Z beginnt. Ich erinnere mich nämlich, dass die Frau auf der Post gesagt hat,
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