Die Opferstaette

Ginsters gehandelt haben oder viel früher oder auch später gewesen sein. Es beweist nicht, dass in der Nacht, in der die Intrinsic sank, Strandräuber am Werk waren.«
    »Stimmt. Aber wir haben ein wenig geforscht. Wie es scheint, waren Piraterie und Strandräuberei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein beliebter Zeitvertreib an der Westküste. In den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts beschuldigte man Fischer in der Gegend von Kilkee, Feuer auf den Klippen anzuzünden, um Schiffe im Sturm auf das Riff zu locken. Schmuggel war eine weitere Nebeneinnahme, deshalb wurde eine Küstenwache für den Bezirk eingerichtet, die sich um diese Dinge kümmern sollte – zwei Jahre vor dem Untergang der Intrinsic , um genau zu sein. Aber in der Sturmnacht, in der das Schiff die Küste herunterkam, war der Wächter von Kilkee anscheinend nach Loop Head gefahren, weil der dortige Leuchtturmwärter krank daniederlag. Da die Wache fort war, errichteten die Strandräuber einen Haufen aus Torf und Ginsterbüschen, zündeten das Ganze an und unterhielten es die Nacht über. Ich bezweifle, dass sie den Stein absichtlich versengt haben, das wird wohl der Wind getan haben, der die Flammen weitertrug.«
    »Hätte ein Schiffskapitän nicht nach einem Leuchtturm mit Öllampen Ausschau gehalten?«
    »Richtig. Allerdings war es noch nicht so lange her, dass der Leuchtturmwärter auf Loop Head Torf und Ginster in einem Kohlebecken verbrannte. Überdies hatte sich in genau diesem Jahr die Handelskammer von Limerick beklagt, die Öllampen seien zu schwach. Und außerdem rechnete der Kapitän der Intrinsic nicht damit, sich vor der Küste von Clare wiederzufinden, seine Karten waren möglicherweise alt, und das Wetter war scheußlich. Stellen Sie sich vor, Sie sind der Kapitän des
Schiffs. Wie hätten Sie gehandelt? Werfen wir mal einen Blick von dort drüben aufs Meer.«
    Wir gingen bis ans Ende der Landspitze hinaus. Die Sonne, die bisher von einem Dunstschleier gedämpft worden war, schlüpfte darunter hervor und schien grell aufs Wasser.
    Vor uns im Süden lag das Riff und ein Stück weiter die Küste hinab die Poulatemple Bay, wie sie in jener Schicksalsnacht noch genannt wurde. Ich verstand, wie ein verantwortungsbewusster Kapitän, der die Landspitze, auf der ich stand, irrtümlich für Loop Head hielt, ausreichend Meer zwischen sich und der Felsenküste lassen würde, ehe er vermeintlich in die Shannon-Mündung einbog. Er konnte die Klippen oberhalb der Bucht nicht sehen, als er einbog, weil es Nacht war und der Sturm ihm die Sicht raubte. Aber er konnte immer noch das Licht sehen, das er im Norden gerade hinter sich gelassen hatte, das Torffeuer, das nicht weit von der Stelle, an der ich jetzt stand, angezündet worden war, um das Schiff auf das Riff zu locken. Und so war die Intrinsic in der tödlichen Umarmung der von den Wellen gepeitschten Bucht gelandet, alle Menschen an Bord ertrunken und die Strandräuber um ihre Beute gebracht worden.
    »Ich glaube, ich verstehe die Entscheidung des Kapitäns«, sagte ich.
    Die Sonne streifte den Horizont. Wir sahen, wie sie ins Meer zu schmelzen schien und sich wie verschütteter Sirup über die Oberfläche ausbreitete.
    Während wir darauf warteten, dass sie ganz verschwand, fuhr Kendrick fort. »Die Küstenwache sah das Schiff am nächsten Morgen, als sie von Loop Head zurückkehrte, und schlug im Dorf Alarm. Uns fiel auf, dass in den Berichten sehr betont wurde, wie die ganze Gemeinde herauskam und auf den Klippen kniete und der Ortspfarrer sie im Gebet leitete. Dann gibt
es die Geschichte von der jungen Frau und dem Handschuh und wie tapfer sie und ihr Mann waren. Wir fanden sogar den Text einer am folgenden Sonntag gehaltenen Predigt, in der die junge Frau von jeder Sünde freigesprochen wurde. Dass sie ihrem Mann ins Meer folgte, sei kein Selbstmord gewesen. All das schien dazu zu dienen, die Schuldgefühle der Dorfgemeinde zu kompensieren. Aber sie unternahmen auch praktische Schritte, um sicherzustellen, dass für Außenstehende kein Hinweis auf die Wahrheit zu finden war.«
    Hier hakte ich ein: »Sie vergruben das Säulenkreuz und seine unmittelbare Umgebung unter einer Schicht Erde und Grasnarbe. Um die Beweise für das Feuer zu verdecken, aus Scham, wie Marion Costello gesagt hatte. Deshalb gab es kein Monument zu verzeichnen, als die Landvermesser 1839 hierherkamen, und folglich auch keinen Hinweis auf Klosterruinen in der Nähe.«
    Es wurde dunkler. Wir machten kehrt und