Die Opferung
einmal die Zeit finden kann.«
»Genau«, sagte Harry. »In die Zukunft. Oder in die Vergangenheit. Wer weiß das schon? Es heißt, dass es Orte gibt, an denen ist alles so wie hier, nur anders. Als wäre die Queen eine Schwarze und niemand hätte jemals das Fliegen entdeckt.«
»Alternative Wirklichkeiten«, sagte ich. »Darüber habe ich einen langen Artikel im Telegraph gelesen.«
»Halte ich alles für Unsinn«, erwiderte Harry. »Aber diese Kinder verschwinden, und niemand findet jemals etwas von ihnen wieder. Keinen Schuh, keinen Fußabdruck, keinen Fingernagel.«
Liz betrat die Veranda. Sie trug khakifarbene Shorts und ein weißes T-Shirt, durch das ihre Brustwarzen schimmerten. »Noch etwas Tee?«, fragte sie und schirmte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab.
Harry schüttelte den Kopf. Liz kam herüber und setzte sich zu uns auf die Mauer. »Sie sind doch nicht gekommen, um unsere Ratte zu fangen, oder?«, fragte sie. Sie hatte ihre Haare gewaschen und roch nach Laura-Ashley-Parfum.
»Ich weiß nicht, ob ich sie heute schon fangen werde, aber ich will mal einen Blick riskieren«, erklärte Harry. »Ich habe schon immer das Verlangen gehabt, Brown Jenkin zu fangen. So wie Captain Ahab das Verlangen verspürte, diesen Moby Dick zu fangen.«
»Ich habe Ihrer Frau versprechen müssen, dass ich Sie das nicht machen lasse«, sagte ich ihm.
»Natürlich. Aber Sie wissen, wie Frauen sind. Sie wissen nicht, was Pflichtgefühl heißt.«
»Was für ein Pflichtgefühl?«, fragte Liz.
»Er ist ein Rattenfänger«, ließ ich sie wissen. »Wenn er Brown Jenkin fängt, dann ist das der krönende Abschluss seiner Karriere. Man wird sich immer an ihn erinnern. Jedenfalls in Bonchurch.«
»Darum geht's nicht«, widersprach Harry. »Ich will keinen Ruhm.«
»Oh«, sagte ich perplex.
Harry zündete die Zigarette wieder an. »Die Art Pflichtgefühl, die ich meine, ist eine Verpflichtung gegenüber der Familie, gegenüber meinem Bruder.«
Wir warteten, während sich Harry räusperte. »Mein jüngerer Bruder William verschwand, als er acht Jahre alt war. Wir haben im selben Zimmer geschlafen, William und ich. Er ist nur für ein Glas Wasser in die Küche gegangen. Das war eine von diesen Nächten, in denen im Fortyfoot House Lichter und Geräusche waren. Ich habe das Licht gesehen, wie es die Wolken beschien. Und ich konnte die Geräusche hören, wie ein unterirdisches Grollen. William war aufgestanden, weil er Durst hatte. Das letzte Mal, dass ich ihn sah, war, als er die Schlafzimmertür öffnete. Ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir, in seinem Schlafanzug, sein rotbraunes Haar, sein dünner Hals. Aber ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern.«
»Und Sie haben ihn nie wieder gesehen?«, fragte ich.
»Nie. Aber die Küchentür war von innen verschlossen, ebenso die Haustür. Nur das Oberlicht in der Vorratskammer war offen, doch da hätte sich nicht einmal eine Katze durchzwängen können.«
»Wie lange ist das her?«
Es folgte eine lange Pause, dann schluckte Harry und antwortete: »Bald sind es sechsundfünfzig Jahre.«
»Und Sie glauben, dass er von Brown Jenkin geholt wurde?«
»Ich habe gehört, wie meine Mutter das dem Vikar sagte. Sie war sich dessen sicher. Sie wollte das Fortyfoot House Stein für Stein abtragen, um unseren William wiederzufinden. Aber mein Vater sagte, sie sei verrückt. Brown Jenkin sei nicht mehr als eine Ratte. Oder vielleicht nicht mal mehr als eine Geschichte über eine Ratte. Der Herr gibt, der Herr nimmt, Ratten nicht. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte.«
»Und woher?«, fragte Liz mitfühlend. Es war nicht zu übersehen, dass das Verschwinden seines Bruders Harry Martin noch immer aufregte, auch wenn es über ein halbes Jahrhundert zurücklag.
»Am nächsten Tag entdeckte ich zwei Fußabdrücke im Blumenbeet, direkt auf der anderen Seite der Mauer zur Küche. Abdrücke wie von Rattenpfoten, nur größer, drei-oder viermal größer. Einer von ihnen befand sich mitten in den Stiefmütterchen, der andere war nur ein halber Abdruck, direkt an der Mauer, so als käme er direkt aus der Küchenwand. So, als wäre ein Tier durch die Mauer marschiert, ohne sich überhaupt an ihr zu stören.«
»Haben Sie Ihrem Vater die Abdrücke gezeigt?«
»Das wollte ich, aber er war den ganzen Tag über mit der Polizei unterwegs, um bei den Klippen nach William zu suchen. In der Nacht regnete es dann, und am nächsten Morgen waren die Abdrücke nicht mehr zu sehen. Ich
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