Die Orangen des Präsidenten
Gotteslästerung«, bemerkte meine Mutter. Die Moschee duftete eher angenehm, nach bestem Weihrauch und wohlriechenden Parfüms.
Zuerst waren in der Moschee nur ein paar schiitische Familien.Als wir zum zweiten Mal dorthin flüchteten, gab es auch noch viele andere Familien, hauptsächlich Christen. Als meine Mutter sie sah, flüsterte sie meinem Vater ins Ohr: »Schau, die Christen sind auch hier! Haben sie jetzt auch den richtigen Weg zu Gott gefunden?«
»Das glaube ich kaum. Sie suchen bestimmt auch nur Schutz hier, so wie wir. Du bist, meine Liebe, nicht die einzige in unserem Viertel, die schlaue Einfälle hat.«
Tatsächlich soll keine schiitische Moschee angegriffen worden sein, berichtete mein Vater. Deswegen füllten sich die schiitischen Moscheen mit immer mehr Menschen, sobald der Alarm losging. Glücklicherweise dauerten die Luftangriffe nie besonders lang. Nach den ersten drei Monaten hörten sie sogar ganz auf. Aber der Krieg ging weiter. Die Kampfhandlungen verlagerten sich an die Front. Man munkelte, die Iraner hätten viele Flugzeuge verloren und schickten deswegen nur noch sehr wenige ins irakische Landesinnere.
Ich war erleichtert, dass in Babylon keine Luftangriffe mehr stattfanden. Die ersten Monate waren schrecklich gewesen, weil das Fernsehen plötzlich meine Zeichentrickserien eingestellt hatte und nur noch Nachrichten von der Front, Erklärungen der Regierung, Lieder für die Soldaten und Reden des Präsidenten sendete. In der Schule verwandelte sich die Sportstunde in eine vormilitärische Ausbildung. In der Lesestunde wurden uns statt
Tausendundeine Nacht
eine Frontgeschichte nach der anderen vorgelesen, über Helden, die für die Heimat sterben und zu Märtyrern werden. Fast einen Monat lang musste ich nach der Schule brav zu Hause bleiben. Meine Eltern erlaubten mir nur ganz selten, mit den anderen Jungen auf die Straße zu gehen. Und fast zwei Monate lang durfte ich nicht mehr auf den großen Spielplatz, mein Vater hielt das für zu gefährlich.
Auch meine Mutter war erleichtert, dass die Luftangriffe nicht mehr in unserer unmittelbaren Nähe stattfanden. Einen Monat später musste mein Vater an die Front. Und nocheinige Monate später wurde meine Mutter schließlich in einen Abgrund der Verzweiflung gestürzt, weil sich ihr Ehemann an der Front von uns und der Welt verabschiedet hatte.
Mit neun Jahren, zu Beginn des zweiten Kriegsjahres, verlor ich also meinen Vater. Er ist an der Südfront gefallen. Der Frontkämpfer, der seinen Sarg mitbrachte, erzählte, mein Vater habe in der Nacht unvorsichtigerweise auf einer kleinen Anhöhe gesessen und sich eine Zigarette angezündet. Auf der anderen Seite habe ein iranischer Scharfschütze wohl die Glut der Zigarette gesehen, direkt in diese Richtung geschossen und das linke Auge meines Vaters getroffen.
Seit dem Tod meines Vaters nannte man mich Sohn des Märtyrers. In der Schule bekam ich in allen Fächern zehn Punkte geschenkt, quasi als Belohnung der Regierung für meinen Märtyrervater. Die Regierung belohnte auch meine Mutter. Sie bekam ein Grundstück, zweitausend Dollar und einen Renault, als materiellen Ausgleich für ihren gefallenen Ehemann. Wie ich später erfuhr, unterstützten damals viele arabische und westliche Staaten die irakische Regierung, weil sie kein schiitisch-islamisches Land im Nahen Osten haben wollten. Also führte der Irak Krieg gegen den Iran, aber im Grunde war es der Krieg der halben Welt gegen den Iran. Die Iraker schickten Soldaten an die Front, die Unterstützer Geld, Waffen und Autos. Meine Mutter verkaufte das Grundstück und den Renault und kaufte für uns eine kleine Wohnung im selben Viertel, von der sie einen Teil in ein kleines Geschäft umbaute. Die Wand, die zur Straße lag, verwandelte sie in einen großen Eingang mit dem Schild: »Märtyrergemüsegeschäft«.
So erzog sie mich letztlich ohne Hilfe von Verwandten oder Bekannten. Sie wollte nie wieder heiraten. Immer, wenn ein Mann um ihre Hand anhielt, sagte sie, es gäbe nur einenMann, der ihre Seele und ihr Herz gestohlen habe. Wer sie heiraten wolle, müsse dessen Erlaubnis erbitten. Aber wie sollte das möglich sein, wo der Besitzer ihrer Seele doch ein Märtyrer war?
Nach Muhsins Tod bin ich mit meiner Mutter oft in Nadschaf gewesen, um das Grab meines Vaters auf dem großen Friedhof zu besuchen. Es war kaum zu ertragen, meiner Mutter zuzusehen, wie sie am Grab ihres Mannes eine Kerze und Weihrauch anzündete und weinte. Jedes Mal
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