Die Orangen des Präsidenten
seine Schulter. Er schaute sie erstaunt an. Unvermittelt spuckte sie ihm ins Gesicht. Er war sprachlos und starr wie eine Salzsäule. Und sie? Sie ging einfach weiter. Seitdem war Muhsin in Haiat verliebt.
»Wegen der Spucke?« Meine Mutter lachte wie ein Kind, wenn ich ihr diese Frage stellte.
Noch am selben Tag verfolgte er sie heimlich, erkundigte sich anschließend bei den Nachbarn nach ihrem Ruf und dem ihrer Familie. Eine Woche nach der Spucke erschien Muhsin in Begleitung einiger Männer bei Haiats Familie und bat um ihre Hand. Sie nahm sein Angebot an, und knapp ein Jahr nach der Spucke tauchte ich auf. Die Frucht dieser einzigartigen Liebe.
Ich bin also ein sumerisch-babylonisches Kind. Ich lebte in den heiligen Stätten der Menschheitsgeschichte, in Babylon und in Ur. Und das nicht etwa Tausende von Jahren vor Christus, sondern am Ende des 20. Jahrhunderts. Meine Mutter wurde in Hilla, der Hauptstadt der Provinz Babylon, geboren. Mein Vater stammte aus Nasrijah, der Hauptstadt der Provinz Dhi-Qar, nahe den Ruinen von Ur, einer der ältesten sumerischen Städte und dem einstigen Zentrum Mesopotamiens. Beide Städte liegen am Euphrat. Aus diesem Fluss habe ich getrunken und in ihm habe ich geschwommen und dort die Meerjungfrau mit dem goldenen Busen gesehen.
Ich lebte mit meinen Eltern im Kurden-Viertel von Babylon, im Stadtzentrum, fünfhundert Meter vom Busbahnhofentfernt und einige Minuten zu Fuß bis zum Flussufer. Das Kurden-Viertel war nicht, wie der Name vermuten lässt, vorwiegend von Kurden bewohnt. Es lebten nur ein paar kurdische Familien dort. Aber man nannte es trotzdem das Kurden-Viertel. Hauptsächlich wohnten hier Araber, die sunnitische Muslime oder Christen waren, und nur einige wenige schiitische Familien wie meine.
Ich wurde aber nicht im Kurden-Viertel geboren, sondern in Samarra. Als meine Mutter im neunten Monat schwanger war, soll sie bei einer dort lebenden Freundin zu Besuch gewesen sein. Samarra, die Stadt, die man aufgrund ihrer außerordentlichen Schönheit ehemals »Surra-Man-Ra’a« nannte, was so viel bedeutet wie »Erfreut, wer sie sah«, ist meine Geburtsstadt.
Einige Tage nach ihrer Ankunft in Samarra wollte meine Mutter unbedingt den Al-Serdab-Keller des Verborgenen Imam Al-Mahdi besuchen, in dem dieser im neunten Jahrhundert verschwunden sein soll. Seitdem warten die Schiiten auf seine Wiederkehr zusammen mit Jesus Christus, um Gerechtigkeit in die Welt zu bringen und die Menschheit vor dem Bösen zu retten.
Die beiden Frauen gingen dorthin, besuchten zuerst die Grabstätten von Al-Mahdis Großvater und Vater in der Al-Askari-Moschee. Anschließend machten sie sich auf den Weg zum Al-Serdab. Meine Mutter legte sich die rechte Hand an den Kopf und wiederholte fortwährend das Al-Mahdi-Gebet: »Möge Gott Imam Al-Mahdi möglichst bald in Erscheinung treten lassen.«
Bevor Haiat in den Al-Serdab eintreten konnte, sank sie plötzlich ohnmächtig zu Boden. Als sie nach mehr als einer Stunde die Augen aufmachte, fand sie sich in einem Krankenhaus wieder. Eine halbe Stunde später fiel ich aus ihrem Bauch in die Hände der Krankenschwester.
Und seitdem heiße ich Mahdi.
Meine Eltern verwöhnten mich unendlich. Ich war ihr Leben und gleichzeitig ihr Traum. Alles drehte sich nur um mich. Was ich mir wünschte, bekam ich: Süßigkeiten, Spielzeug und beinahe jeden Monat etwas Neues zum Anziehen. Ungefähr einmal in der Woche trug mich mein Vater auf seinen breiten Schultern durch die halbe Stadt bis zum großen Spielplatz von Babylon. Sogar die Auswahl des Fernsehprogramms zu Hause richtete sich nach meinen Zeichentrickserien. Aber das Glück hielt nicht lange an. Ich war gerade acht Jahre alt, als das Leben der Familie eine andere Wendung nahm: Der Irak-Iran-Krieg begann.
Der erste Luftangriff hat uns alle erschreckt. Die Kampfflugzeuge grunzten über den Himmel wie Schweine. Ein ohrenbetäubender Krach. Zu diesem Zeitpunkt hockte ich gerade vor dem Fernseher und vergnügte mich mit meinem Kinderprogramm. Meine Mutter bereitete in der Küche das Mittagessen vor. Ich sprang auf, rannte ans Fenster und schaute zu den großen Adlermaschinen, die überall am Himmel kreisten. Meine Mutter stürzte aus der Küche zu mir, presste mich fest an sich, riss mich mit zu Boden und versteckte mich unter ihrem schwarzen Gewand. Als wir Sekunden später eine Explosion hörten, die die Wände des Hauses erzittern ließ, flüchteten wir uns in den kleinen Hohlraum unter der Treppe.
Der
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