Die Orangen des Präsidenten
Auffälligkeit schrieb ich sorgfältig auf. Und eines Tages konnte ich das Geheimnis aufklären
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Es war, als der Sarg eines Gefallenen eintraf. Es war unser Nachbar, ein Friseur. Sekunden nach der Ankunft des Sarges flatterten meine Tauben verschreckt in den Himmel. Das war an sich nicht ungewöhnlich, denn als der Sarg abgeladen wurde, schrien die trauernden Frauen aus voller Kehle, und die Männer feuerten Geschosse in den Himmel ab. Man verabschiedete den Gefallenen mit einem gewaltigen Getöse
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In diesem Moment fiel mir auf, worin das Taubenproblem bestehen musste. Ich stand auf dem Dach des obersten Zimmers und blickte über die Häuser des Viertels. Und schlagartig bemerkte ich: Alles war schwarz. Beinahe an jedem Haus hingen schwarze Trauerplakate an den Wänden über der Haustür, mit dem Geburtsort und dem Todesdatum der Märtyrer. Die Menschen trugen fast ausnahmslos schwarze Trauerkleider. Natürlich mussten die Tauben verstört sein. Sie haben von Natur aus Angst vor schwarzer Farbe. Aber damit noch nicht genug. Da waren auch die Flugzeuge, die täglich über uns hinweg Richtung Iran flogen und wieder zurückkehrten. Sie sahen aus wie große Adler. Und Tauben fürchten Adler. Schließlich gab es neben der schwarzen Farbe, den Metalladlern und dem Lärm einen weiteren Grund: die Wolle. Ja, die Schafwolle. Als ich so von oben das Viertel betrachtete, wurde mir erst bewusst, wie viel Wolle es hier gab. Sie lag auf der Mehrzahl der Hausdächer zum Trocknen. Damals kam fast wöchentlich ein Sarg von der Front. Also musste ein Schaf geschlachtet werden,um die Gäste an den Trauertagen zu verpflegen. Nach der Schlachtung wird die Wolle auf Dächer gelegt, um sie nach der Trocknung verarbeiten zu können. Und so vermehrte sich die Schafwolle im Viertel ebenso schnell wie die Zahl der Märtyrer. Der Geruch der Wolle wirkt aber auf Tauben wie Rauschgift. Er betäubt sie oder regt sie zumindest auf. Sie fürchten die Wolle. Wegen des Wollegeruchs kann eine Taube einen Herzinfarkt bekommen. Das weiß jeder Taubenzüchter auf der ganzen Welt
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So habe ich das Rätsel gelöst. Ich erzähle es stolz den anderen, und ich bin der Pate der Taubenzüchter geworden. Ein Heilmittel gegen die Angst der Tauben habe ich aber leider nicht gefunden. Anfangs dachte ich, sie würden sich daran gewöhnen, genau wie die Menschen. Aber das geschah nicht. Wir Menschen haben uns daran gewöhnt, dass Männer an der Front sterben und im Sarg zu uns zurückkehren. Das wurde im Laufe des Krieges zur Normalität. Es gehörte zum Alltag. Das Leben musste weitergehen. Die Tauben verstanden das aber nicht. Erst als der Krieg endlich vorbei war und kein Sarg mehr kam, fanden sie wieder richtig zu sich selbst
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Ich konnte Tauben schon seit meiner Kindheit gut leiden. Aber seit ich das Rätsel ihres merkwürdigen Verhaltens gelöst hatte, war ich wirklich in sie verliebt
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Der Ägypter, so hieß ein großer Täuber, war Samis Lieblingstier. Er war groß wie ein Rabe und ebenso schwarz, aber mit weißen Pünktchen auf Kopf und Flügeln. Er hatte lange Beine, einen langen Hals, rote Augenränder und einen langen, kräftigen Schnabel. Er gehörte zur Rasse der Warzentauben. Diese Rasse habe jeder Taubenzüchter gern, erklärte Sami.
»Sie sind die treuesten Tauben der Welt. Sie vergessen nie ihren ersten Platz, genau wie der Mensch, der die erste Liebe nie vergisst. Sie fliegen weg, kehren aber immer wieder zu dem Ort zurück, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Deswegen werden sie gern gezüchtet. Man muss sie nur einmalfliegen lassen. Wenn sie zurückkehren, kennen sie ihr Dach für immer und ewig.«
Sami brachte mir die Regeln des Fliegens und Züchtens bei. Er lehrte mich alles, was man braucht, um ein wahrer Taubenkenner zu sein.
Es dauerte nur einige Monate, bis ich das Wichtigste beherrschte. Ich erkannte bald, welche Rasse, welches Geschlecht, welches Alter, welchen Charakter oder welchen Wert eine Taube hatte, sogar im Flug konnte ich das ausmachen. Und mein Meister, Sami? Er stand freitagnachmittags neben dem Taubenschlag und erzählte:
In der ersten Phase der Taubenzucht bringt man den Tauben bei, ihre neue Heimat, den Käfig, das Dach und die Mauer kennenzulernen, wo man Futter und Wasser für sie bereithält. Die Tauben müssen zunächst auf der Dachfläche bleiben. Dann dürfen sie auf die Dachmauer. Innerhalb dieser Dachphase, die zwischen sieben und zehn Tagen dauert, werden den Tauben die Flügel gefesselt. Man nimmt
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