Die Orangen des Präsidenten
Alle im Taubencafé lachten darüber. Sami selbst hat sogar so laut gelacht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Razaq hatte recht. Sami war ein einzigartiger Mensch. Razaq, Samis wahrer Freund, war aber auch ein besonderes Geschöpf. Er war genauso alt wie Sami. Auch zwischen uns entstand eine tiefe Freundschaft, durch Sami und die Tauben.
Razaq war ursprünglich Inder, lebte aber im Irak wie ein Iraker. Immer hatte ich das Gefühl, er sei mehr Iraker als viele Iraker selbst. Keiner kannte die irakische Geschichte so gut wie er. Als Geschichtslehrer war das natürlich auch sein Job. Sami sagte oft: »Wenn alle Inder wie Razaq wären, dann würde ich mir wünschen, Inder zu sein. Und wenn alle Iraker wie Razaq wären, dann würde dieses Land eine neue mesopotamische Legende erleben.«
Mustafa, Razaqs Vater, soll eine irakische Legende gewesen sein. Und das, obwohl er Inder war. Mustafa kam Anfang des 20. Jahrhunderts als Soldat der britischen Armee in den Irak, als die Briten die Türken verjagt hatten und den Irak regierten. Er war damals achtzehn Jahre alt. Er blieb aber nicht lange in der britischen Armee, sondern wechselte die Seite und ging zu den irakischen Partisanen, um mit ihnen gegen die Engländer zu kämpfen. Vielleicht weil er Muslim war, aber die Briten waren auch in Indien Besatzungsmacht. Er kämpfte also gegen dieselben Besatzer, ob im Irak oder in Indien.
Dann lebte er in Qlat-Sukr beim Al-Hamid-Stamm. Mansagte, er habe die arabische Sprache sehr schnell gelernt und beherrsche sogar die Umgangssprache. Keiner hielt ihn für einen Inder, wenn er sprach. Der Al-Hamid-Stammesführer gab ihm seine einzige Tochter zur Frau. Die beiden lebten lange dort und bekamen viele Kinder. Später zogen sie nach Nasrijah.
Dort lernte Mustafa den jungen Fahad kennen. Mit ihm und einigen anderen hat er die erste Partei im Irak gegründet: die Irakische Kommunistische Partei. Mustafa soll das erste Manifest der Partei geschrieben haben, das Fahad dann unterzeichnete und veröffentlichte. Offiziell hieß es immer, Fahad sei der Verfasser. Razaq aber behauptete, das sei eine Geschichtsfälschung. Sein Vater habe es geschrieben, weil er der älteste unter den Parteigründern war. Und das sei im Irak Tradition. Dem Ältesten gehöre immer der erste Schluck oder Bissen.
Mustafa kämpfte dann lange mit der Partei gegen das irakische Königreich und dessen britische Verbündete. Als die erste irakische Republik gegründet wurde, bekam er eine Ehrenmedaille. Der erste irakische Präsident, Abdel Karim Qasim, hat ihn 1959 ausgezeichnet. Danach wurde er Diplomat in Pakistan. Nicht in Indien, weil er aus einem Gebiet stammte, das nach der Teilung Indiens zu Pakistan gehörte.
Sein späteres Leben verlief dann nicht mehr so schön. Nach dem Putsch der irakischen Nationalisten, der Baath-Partei und der Militärgeneräle wurde Präsident Qasim am 9. Februar 1963 gehängt und Mustafa ins Gefängnis gesperrt. Er wurde zwar nach einem Jahr wieder entlassen, war jedoch sehr krank. Er soll im Gefängnis gefoltert worden sein und war einige Jahre ans Bett gefesselt, bis er 1967 starb. Als 1968 die Baath-Partei an die Macht kam, musste Mustafas Familie unterschreiben, dass kein Familienmitglied in irgendeiner Weise politisch tätig werden würde. Falls doch, würden sie nach Indien oder Pakistan abgeschoben. Diese Verzichtserklärung musste die Familie 1980 noch einmal unterzeichnen,als Saddam Hussein Führer der Baath-Partei und des ganzen Landes wurde.
Mustafas Kinder sind alle zwischen 1969 und 1980 ins Ausland gegangen, auch seine Frau. Sie wanderte mit einer ihrer Töchter nach England aus. Nur Razaq blieb, weil er in eine Krankenschwester verliebt war, Laila, die hübsch und liebenswürdig war. Er heiratete sie und bekam zwei Kinder mit ihr. Die Leute nannten ihn und seine Familie »die kommunistische« oder auch oft »die indische Familie«.
Bei dieser indischen Familie war ich oft zu Besuch. Ich genoss es, mit den Kindern zu spielen und von Laila umsorgt zu werden. Sie freute sich immer, mich zu sehen. Sie schien glücklich zu sein. Bevor sie Razaq kennenlernte, hatte sie ein schweres Leben gehabt und trotzdem niemals ihre Schönheit eingebüßt. Sie kam aus einer großen Familie und war das älteste Kind. Der Vater arbeitete im Basar als Obsthändler und die Mutter war Hausfrau. Laila konnte nach der Mittleren Reife nicht das Gymnasium besuchen und ihren großen Traum verwirklichen, Ärztin zu werden, weil der Vater
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