Die Orangen des Präsidenten
Täglich hörte ich etwa zehn unterschiedliche Versionen desselben Themas.
Aber eines Tages wurden die Leute plötzlich aufgeregt.Und nach diesem Tag hatten wir 48 Stunden nichts anderes zu tun, als jeden auf der Straße zu kontrollieren, den wir nicht kannten. Wir mussten ja Verräter und Spitzel herausfischen, die sich angeblich unter uns befanden.
Es war Freitagmittag. Zum Zeitpunkt des Freitagsgebets hatten sich viele Aufständische in der großen Imam-AliMoschee eingefunden. Als der Gebetsrufer durch den Lautsprecher verkündete: »Gott ist groß«, hockte ich gerade am Tisch eines Teehauses gegenüber der Moschee und überwachte die Straße. Zeitgleich mit dem Beginn des Gebetsrufs erblickte ich einen Kampfhubschrauber am Himmel. Er flog ungewöhnlich schnell und auffällig niedrig. Ich hielt ihn für einen der Alliierten, die ab und zu über die Stadt flogen. Erst später habe ich erfahren, dass er der irakischen Regierung gehörte. Aus diesem Hubschrauber, hieß es, sollte sich ein Sondereinsatzkommando auf das Dach des Krankenhauses abseilen und den Kommandierenden General der irakischen Südtruppen befreien, den die Aufständischen zu Beginn der Revolte verwundet und festgenommen hatten. Die Soldaten des Sondereinsatzkommandos töteten zwei Wärter und verletzten einige andere. Letztlich gelang ihnen mitsamt dem General die Flucht über den Luftweg.
Deswegen also mussten wir nun die Augen besonders gut offen halten. Jeder sprach nur noch von Verrätern und Spitzeln, die sich unter uns befänden und die Regierung in Bagdad über den Aufenthaltsort des Generals informiert hätten.
Am Tag der Befreiungsaktion herrschte ein unüberschaubares Chaos in der Stadt. Die Aufständischen forderten die Leute auf, daheim zu bleiben. Nach Einbruch der Dunkelheit durften nur noch die Aufständischen auf den Straßen sein. Jeden, der sich noch draußen herumtrieb, mussten wir verhaften und in die zum Gefängnis umfunktionierte Grundschule bringen. Doch keiner der Verräter wurde festgenommen.
Meine Aufgabe, die ich vorher nur tagsüber zu erfüllen hatte, wurde auf die Nacht ausgedehnt. Folglich verbrachteich Tage und Nächte auf der Straße und schlief nur sehr wenig, höchstens zwei Stunden am Tag.
Nach zwei Nächten nahm die Aufregung deutlich ab, die Gerüchte allerdings im gleichen Maß zu. Saddams Armee sollte bereits auf dem Weg zu uns sein. Trotzdem freute ich mich in dieser Nacht auf mein Bett.
Als ich abends völlig erschöpft das Haus betrat, rannte Shaker auf mich zu. »Die irakische Armee marschiert gegen uns auf. Das hat Radio Monte-Carlo gemeldet. Und Radio London.«
Ich ging ins Wohnzimmer. Jasim lag auf der Couch, in den Händen einen Radioapparat, und versuchte einen vernünftigen Sender einzustellen.
»Stimmt das? Die Armee ist unterwegs?«
»Ja«, murmelte er, ohne mich anzuschauen.
»Wo sind sie genau?«
»Bald werden sie in Kut sein.«
Ich ging ins Dachzimmer und dachte: Kut liegt nur fünfzig Kilometer von Nasrijah entfernt.
Zufällig wird man erwachsen, hatte ich festgestellt, als ich den ersten Tag des Verhörs im Knast erlebte. Aber im März des unbeschreiblichen Jahres 1991 musste ich meine Erkenntnis erweitern: »Zufällig wird man erwachsen oder ein Fremder.« Zufällig wurde ich Anfang März von den Aufständischen aus der Haft befreit und schon am Ende desselben Monats war ich von einer Sekunde auf die andere ein Fremder im eigenen Land. Nicht nur ich, sondern Tausende von Menschen. Erstaunlich, wie schnell das ging.
Wenn ich mich nicht irre, war es ein Montag. Frühmorgens erreichte uns die Nachricht, die irakische Armee bewege sich auf Nasrijah zu. Die Stadt Kut sei bereits gefallen, die kleinen Städte und Gemeinden zwischen Kut und Nasrijah ebenfalls. Die irakische Armee, die Sonderkommandos,der militärische Geheimdienst und die Sicherheitspolizei sollten die Aufständischen festgenommen, ohne Prozess hingerichtet und dann massenweise in der Wüste vergraben haben.
Diese Nachrichten verursachten Panik unter den Widerstandskämpfern, die zu verhindern suchten, dass die Zivilbevölkerung von diesen Vorgängen erfuhr. Aber die Gerüchte schwelten wie Glut unter der Asche und vermehrten sich wie Ratten. Einer behauptete, die Armee sei noch gar nicht unterwegs. Ein anderer, sie sei bereits in wenigen Stunden bei uns. Auch mit Hilfe des Radios konnte man sich nicht zuverlässig informieren. Denn selbst die Nachrichten widersprachen sich.
Abends gegen 20 Uhr unterbrach ich
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