Die Orangen des Präsidenten
Meter, besonders unter den Frauen. Ich fühlte mich insgesamt sicherer als vorher, weit weg von den Geschossen und Raketen.
In die Wüste hatte ich mich eigentlich noch nie vorgewagt. Ich kannte mich in dieser weitläufigen Landschaft überhaupt nicht aus, hatte sie bisher nur aus der Ferne gesehen. Durch die Fenster der Busse, wenn ich auf Reisen war, hatte ich eingehend die gewaltigen Sandmengen betrachtet und gedacht, dahinter könne es gar keine Welt mehr geben, unter diesem unendlich großen gelben Betttuch. Meine Mutter hatte einmal gesagt: »Die Wüste ist ein Friedhof. Sie nimmt alles und gibt nichts zurück.« Tief in meinem Inneren beschlich mich das mulmige Gefühl, diesen unzähligen Grabhügeln niemals wieder entkommen zu können.
Doch plötzlich sahen wir etwas. Es war keine Oase, sondern eine große Befestigungsanlage. Sie befand sich direkt vor uns, eine verlassene Militärstellung. Es gab dort einige Hunde, die zwischen ein paar vertrockneten Leichen immer noch nach Fleisch suchten. Und überall lagen zerlumpte Uniformen sowie jede Menge zerstörter Auto- und Panzerteile herum. Bestimmt ein irakischer Posten aus dem Krieg, dachte ich. Ich hoffte in diesem Moment inständig, diese Wüste möge mich auf der Stelle ausspucken und ich an irgendeinem anderen Ort wieder zu mir kommen. Doch leider tat sie das nicht, und ich murmelte das treffende Wort meiner Mutter vor mich hin: Friedhof.
Die Flüchtlinge waren sich jetzt nicht mehr einig. Einerforderte durch sein Megafon, man solle weitergehen. Ein anderer schlug vor, hier zu übernachten. Was sollte ich tun? Ich war hundemüde. Am liebsten wollte ich mich einfach nur irgendwo hinhocken und die Beine von mir strecken. Die meisten Flüchtlinge stapften unbeirrt weiter durch den Sand. Nur wenige blieben wie ich stehen. Ein alter Mann neben mir fragte: »Bist du allein hier?
»Ja.«
»Dann komm mit. Wir bleiben heute hier. Morgen macht Gott, was er für richtig hält.«
Der Alte, der Abu-Hady hieß, hatte eine große Familie dabei, nur Frauen und Kinder. Er und seine Familie suchten sich zielstrebig einen Raum in der verlassenen Militärstellung, reinigten notdürftig den Boden, sammelten ein paar Decken auf, die genauso herumlagen wie Leichen und Klamotten, und machten es sich bequem, so gut es ging. Abu-Hady wandte sich von seiner Familie ab, kam zu mir und drückte mir eine Decke in die Hand. »Es ist kalt. Du brauchst sie heute.«
»Danke! Gehörte welcher Leiche?«
»Hoffentlich nicht unserer!«
Wir legten uns auf den Boden gegenüber dem Raum, in dem sich die Frauen und Kinder niedergelassen hatten. Wir schwiegen und betrachteten die Umgebung. Ich musterte den Alten an meiner Seite. Er wirkte sehr alt, war aber kräftig. Ich konnte nicht einschätzen, wie alt er tatsächlich war. Aber er verriet es mir bald:
»Ich weiß nicht, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben«, sagte er über diejenigen, die weitergegangen waren. »Aber in der Wüste verliert der Mensch schnell seine Geduld. Nur ein Kamel nimmt das mit Gleichmut hin und verliert auch nicht die Orientierung. Wir aber sind keine Kamele! Wir kennen uns in der Stadt gut aus, aber nicht in der Wüste. Wir sind eben nur Menschen. Oder? Ich bin inzwischen fünfundsechzig Jahre alt. Und immer wieder treten Ereignisse ein, die mich fast davon überzeugen, dass wir garkeine Menschen sind. Höchstens Gäste. Einzigartige Gäste aus dem Nichts.«
»Einzigartige Gäste aus dem Nichts sind wir«, wiederholte ich den letzten Satz. »Sehr schön ausgedrückt. Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin ein einfacher Bauarbeiter. Mein eigenes Haus steht nun ohne Wände da. Vielleicht auch ohne Türen. Vielleicht steht überhaupt kein Haus mehr. Nur noch eine Ruine. Die Bombe hat alles verwandelt. In ein göttliches Chaos. Ich bin jetzt ein perfekter Bauarbeiter! Ohne Haus!«
»Schlaf endlich!«, unterbrach eine weibliche Stimme aus dem Raum nebenan das vertrauliche Gespräch. »Lass den Jungen in Ruhe. Er muss auch schlafen.«
»Das ist meine Frau. Lass uns schlafen! Sie hat recht.«
Ich konnte nicht schlafen. Mein ganzes Leben strich vor meinen Augen vorüber. Es schien wie ein Albtraum. Und nun war ich ein Fremder im eigenen Land. Floh zu den Ausländern, die noch vor einigen Monaten meine Landsleute getötet und uns erst vor einigen Stunden unserem Schicksal überlassen hatten! Ich hatte fürchterliche Angst. Ob wir tatsächlich die Grenze erreichen würden? Und die anderen? Was mochten sie
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