Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
hast ja Deborah geradezu den Krieg erklärt. Also müssen wir uns irgendwohin außerhalb ihres Blickfelds begeben. Und dort müssen wir überlegen, was wir tun können.«
Den Krieg erklärt …
Das klang brutal, aber Jakob hatte recht.
»Wir machen besser kein Licht«, sagte er.
War Quint vielleicht im Haus? Schlich er hier herum, eine Waffe in der Hand?
»Komm mit, auf den Flur.«
Mara folgte ihm. Sie wunderte sich, dass sich Jakob nicht in Richtung Haustür wandte, sondern in einen hinteren Bereich der Wohnung. »Ich denke, wir wollen hier raus?«, sagte sie.
»Wir nehmen einen Ausgang, den Quint nicht kennt. Das hoffe ich jedenfalls.«
Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sodass sie erkennen konnte, wie Jakob eine schwere große Tür aufschloss. Sie durchquerten einen weiteren Gang mit Steinfußboden, in dem ihre Schritte hallten und wo die Kälte Mara unter den Pullover kroch. Nun ging es Treppen hinauf, dann musste wieder eine Tür aufgeschlossen werden. In dieser Etage roch es ganz anders. Nach Kunststoff und Teppichboden. Nach Staub.
Nirgendwo machte Jakob Licht. Er vergewisserte sich nur von Zeit zu Zeit, ob Mara noch hinter ihm war.
Sie durchquerten ein paar Zimmer, und dann öffnete er eine große gläserne Tür. Dahinter erstreckte sich eine Terrasse. Plötzlich standen sie im Freien. Die ständige Geräuschkulisse der Großstadt schien ein akustisches Pendant zu dem milchig dunkelgrauen Himmel zu sein, der sie überspannte.
Nach ein paar Schritten gelangten sie an eine Metalltür. Auch sie schloss Jakob auf.
»Musst du nicht die Terrassentür schließen?«, fragte Mara.
»Das geht von außen nicht. Wenn die Leute morgen in die Büros kommen, werden sie glauben, sie hätten vergessen, sie zuzumachen. Das ist nicht weiter schlimm. Komm.«
Das Treppenhaus, das sie nun erreichten, war sehr eng. Mara folgte Jakob fast blind nach unten, und nach ein paar weiteren Türen betraten sie die Straße. Er zog die letzte Tür hinter sich zu und sah sich kurz um.
»Los, weiter.«
Sie eilten den Gehsteig entlang. Mara wollte fragen, wo Jakob hinwollte, aber es hatte ja keinen Sinn, wenn er ihr hier auf der Straße seine Pläne darlegte. Jetzt kam es darauf an, möglichst viel Raum zwischen sie und das Antiquariat, zwischen sie und Quint, zwischen sie und Deborah zu legen.
Und erst in diesem Moment erinnerte sie sich an Jakobs letzte Frage. Nun war sie bereit, sie zumindest innerlich zu beantworten. Jakob gegenüber hatte sie das schon allein durch ihr Verhalten getan.
Ja, dachte sie.
Ich vertraue dir.
Und während sie mit Jakob durch das nächtliche Wien eilte, spürte sie, wie alles Vergangene von ihr abfiel. Wie sie etwas Neuem entgegenstrebte.
Etwas Neuem, das nur sehr langsam in ihrer Vorstellung Gestalt annahm.
40
Die Wohnungstür öffnete sich, und vor ihnen stand ein lilafarbenes Mozart-Denkmal – in Kniehosen, mit Schnallenschuhen, Perücke, Dreispitz und Rüschenhemd. Alles an ihm war lila, und im Licht des Hausflurs glänzte es, als sei es mit Lack überzogen. Allerdings war die Figur nicht aus Stein, sondern lebendig, denn kaum hatte sie Mara und Jakob erkannt, beugte sie die Knie und machte einen Kratzfuß, wie er zu Mozarts Zeiten üblich gewesen sein musste: Ein Bein ging nach vorn, das andere zurück, der ganze Körper senkte sich, und dann drehte sich die Hand des Mannes in Richtung der Ankömmlinge.
»Seid gegrüßt, meine Freunde«, sagte er. »Bitte tretet ein und lenkt Euer Augenmerk nicht auf die Unordnung, die in meiner Behausung herrscht.«
Damit trat der Mann zur Seite und wies ihnen den Weg ins Innere der Wohnung. Musik ertönte: dahintröpfelnde Klaviernoten vor einem weichen Streicherteppich.
Die Gestalt kam wieder näher, verbeugte sich erneut mit großer Geste und stellte sich schließlich aufrecht in Position. Die lila Schminke bedeckte jeden sichtbaren Quadratzentimeter seiner Haut. Die hellen Augen waren das einzig Natürliche an der Figur. Die Augäpfel wanderten nach rechts oben und schienen die Decke anzupeilen. Und dann schien die Figur auf einen Schlag zu versteinern.
Mara sah zu Jakob. Doch der fasste den Mann ins Auge.
»Ron, wir haben jetzt keine Zeit für diese Spielchen. Mara und ich sind in Schwierigkeiten. Wir brauchen deine Hilfe.«
Sie kannte die lebenden Statuen aus vielen Städten – Straßenkünstler, die stundenlang bewegungslos dastehen konnten und eine Attraktion für Einheimische und Touristen waren. Dieser Ron schien einer von
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