Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
»Hungerkralle« nannten. Es stand in einer Parkanlage, die im Sommer sicher leuchtend grünen Rasen trug, aber jetzt, im Herbst aus nichts als einer braungrauen Fläche bestand. Im Hintergrund erhoben sich die Gebäudekästen des alten Tempelhofer Flughafens.
»Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Für den Bruchteil einer Sekunde war Mara nicht klar, dass man sie meinte. Dass man in einem Polizeibüro höflich mit ihr umging. Früher, als sie noch mit Björn zusammen gewesen war – noch vor der Zeit, als es mit den Konzerten in den Kellern angefangen hatte –, war sie oft an einem solchen Ort gewesen. Allerdings als Verdächtige, als jemand, der etwas zu verbergen hatte, als jemand, hinter dem sich beim nächsten falschen Wort die schweren Eisentüren schlossen. Viele Male hatte Mara sogar auf der harten Pritsche im Polizeigewahrsam übernachtet.
»Danke, dass Sie gekommen sind.«
Der Polizist klemmte sich hinter seinen Schreibtisch und sah Mara an. Auch der Blick war ganz anders als damals. Das hier war nicht der Blick eines Raubtiers, das jeden Moment von der Kette gelassen wurde. Es war ein freundschaftlicher Blick. Nein, das stimmte nicht. Eher ein väterlicher …
»Mein Name ist Langner«, sagte der Mann und faltete die Hände, als wolle er beten. Mara fiel auf, dass seine Hände sehr gepflegt waren. An der rechten Hand glänzte ein goldener Ehering. »Ich weiß nicht, ob Sie sich an uns erinnern. Ich meine, an mich und meinen Kollegen Teltow. Er kommt gleich. Aber um Zeit zu sparen, können wir ja schon mal anfangen. Ich nehme an, dass Sie noch andere Dinge vorhaben. Wann geben Sie denn Ihr nächstes Konzert?«
»Mein nächstes Konzert? Ich glaube, übermorgen …«
Langner lächelte. »Meine Tochter ist ein großer Fan von Ihnen. Könnten Sie mir vielleicht … Ein Autogramm? Natürlich erst nachher, wenn wir fertig sind.«
»Ja, doch sicher. Gerne. Das freut mich. Ich meine, dass Ihre Tochter … Wie alt ist sie denn?«
»Zwölf«, sagte der Polizist mit Stolz in der Stimme.
Mara nickte. Ihr Mund war plötzlich trocken. Autogramm hin oder her. Small Talk hin oder her. Sie musste loswerden, was ihr auf dem Herzen lag. »Sie denken, es war ein Unfall, oder?«
Der Beamte sah auf ein Blatt, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Davon gehen wir aus.«
»Ich glaube das aber nicht.«
Langner runzelte die Stirn und blickte auf. »Wie kommen Sie darauf? Ich meine, Sie waren doch gar nicht dabei?«
»Das Letzte, was ich von Gritti gehört habe, war ein Anruf.«
»Und?«
»Ich glaube, dass es im Moment des Unfalls war. Ich habe lange darüber nachgedacht, und mir kommt es so vor, als habe er mir etwas sagen wollen …«
Langner lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor dem Bauch. »Sie meinen, er hat Sie angerufen, als er von der Straße abkam?«
»Ja, genau. Ich glaube, gut zwei Stunden vor dem Konzert. Kommt das zeitlich nicht hin?«
»Schon.« Die verschränkten Arme gingen auseinander. »Aber damit wir uns richtig verstehen: Herr Gritti rief Sie an. Er sagte etwas zu Ihnen und kam von der Straße ab. So weit korrekt?«
»Ja.« Mara nickte. Sie war froh, dass man ihr zuhörte. Plötzlich fiel ihr Chloe ein.
»Aber das bleibt doch unter uns?«, fügte Mara hinzu. »Ich meine, es kommt nicht in irgendeinen Pressebericht oder so?«
Langner schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Es geht jetzt erst mal darum, Klarheit über die Vorgänge zu erhalten. Also noch mal ganz genau: Sie glauben, Herr Gritti habe mit seinem Handy telefoniert, und das sei der Grund, dass er von der Straße abgekommen ist?«
»Nein, ich denke …«
Die Tür des Büros öffnete sich, und der zweite Polizist kam herein. Langner sah kurz zur Seite, wandte sich wieder Mara zu, aber sie blickte auf den anderen Beamten, dessen Blick und Gesichtsausdruck sie an den eines bissigen Hundes erinnerte. Plötzlich war das Gefühl wieder da – das Gefühl des Ausgeliefertseins, das Gefühl, in irgendeine Zelle gebracht zu werden.
Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Du kannst hier gleich ganz in Ruhe rausmarschieren, du musst sie nur endlich davon überzeugen, dass …
»Das ist mein Kollege. Herr Teltow«, sagte Langner.
Mara nickte ihm kurz zu.
Teltow würdigte sie keines Blicks. Stattdessen nahm er die Mütze ab und wischte sich mit der Hand über sein dunkles Haar. Dann ließ er sich in einen Drehstuhl plumpsen und sagte: »Haben wir jetzt endlich alles? Wir können nicht ewig mit dem verbrannten Ami
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