Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Unklares, nur schwarz und weiß. Für Deborah war alles hell oder alles dunkel. Und wenn es dunkel war, musste man nur auf den Knopf drücken und Licht machen. Die Frau war ja selbst ein strahlendes Licht. Sie trug es symbolisch mit ihrer hellen Kleidung mit sich herum.
»Wie du willst«, sagte Deborah, ohne sich umzudrehen. »Wohin gehst du?«
»Ich bin gleich zurück.« Mara drehte sich dem kleinen Flur zu, dachte aber noch daran, ihren Laptop im Wohnzimmer vom Tisch zu nehmen. Dann konnte sie endlich die Wohnungstür hinter sich zuschlagen, eilte nach draußen über den Parkplatz. Und schon hatte sie der Wald verschluckt.
Hier war es bereits viel dunkler, das Licht stand genau auf der Kippe zwischen Tag und Nacht. Außer ihr war niemand unterwegs. Schließlich kam sie an die Bank, auf der sie heute schon einmal gesessen hatte.
War es die richtige Entscheidung gewesen, sich Deborah anzuvertrauen? Deborah war Anwältin, und eine Anwältin konnte bei den vielen Unwägbarkeiten des modernen Lebens helfen. Konnte es mit den eigenartigen verzwickten Verträgen aufnehmen, die Leute wie Johns Bruder oder auch dieser Potter und viele andere in dieser seltsamen Musikwelt nutzten, um Macht über Menschen wie Mara zu gewinnen. Anwälte waren in der Lage, einem diese Welt zu erklären, die eine Welt innerhalb der normalen Welt war. So wie Maras Musikwelt auch. Die Welt ihrer eigenen musikalischen Ideen, ihrer Fantasie, die die Musik in ihr auslöste. Anscheinend konnte es die eine Welt ohne die andere nicht geben. Es waren zwei Seiten einer Medaille …
Gedankenverloren öffnete Mara den Laptop. Die Dämmerung hatte noch mehr zugenommen, sodass Mara nun wie in einer Lichtinsel dasaß – angestrahlt von der Helligkeit des Monitors.
Ein Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen, als sie vorhin nach dem Computer gegriffen hatte. Sie wollte etwas herausfinden.
Sie öffnete ein Suchprogramm und gab einen Namen ein: »Orpheus«.
Es waren Tausende von Links, die in der Liste erschienen. Mara suchte sich den Artikel eines virtuellen Lexikons heraus.
Orpheus war eine antike Sagengestalt.
Gut, so viel hatte Mara sich auch schon denken können.
Er war aber nicht irgendeine Gestalt, sondern er war Musiker. Der berühmteste Musiker der antiken Geschichte, die berühmteste Musiker-Sagengestalt überhaupt. Orpheus war Sänger, und er begleitete sich auf einer sogenannten Leier, einem antiken Zupfinstrument, das wie eine kleine Harfe aussah. Der Sänger selbst war auf alten Darstellungen zu sehen. Mit Lorbeerkranz und wallendem Gewand.
Mara staunte, als sie über die besonderen Fähigkeiten dieses Sängers erfuhr: Seine Musik besaß eine unglaubliche Macht. Was er sang und spielte, konnte die Natur beeinflussen, konnte wilde Tiere zähmen und sogar Felsen zum Weinen bringen. Und dann erfuhr sie von der traurigen Geschichte, die Orpheus der Sage nach widerfahren war und die ihr auch vage bekannt vorkam.
Orpheus hatte eine Frau, die er abgöttisch liebte. Ihr Name war Eurydike. Eines Tages wurde Eurydike von einer Schlange gebissen. Sie starb und zog – nach dem Glauben der alten Griechen – in die Unterwelt ein. Orpheus sang die traurigsten Lieder, die er sich jemals ausgedacht hatte. Und die Wirkung seiner Musik sorgte für ein Wunder: Die Götter, die seine Melodien schätzten und sich wahrscheinlich auch wünschten, wieder etwas Fröhlicheres von ihm zu hören, gaben ihm eine Erlaubnis, die noch keinem Menschen zuteilgeworden war: Orpheus durfte in die Unterwelt hinuntersteigen und Eurydike zurückzuholen. Es war ein weiter Weg, den er zurückzulegen hatte, aber natürlich zögerte er nicht, ihn zu gehen.
Er musste auf diesem Weg vielen Gefahren trotzen. Er musste den Fluss des Grausens, den Styx, überqueren, um in die Unterwelt zu gelangen – in das Reich der Toten. Doch Orpheus’ Wunderwaffe auf diesem Weg war die Macht seiner Musik. Er meisterte alle Gefahren und als er Eurydike endlich wieder in den Armen hielt, bekam er von Hades, dem Totengott und Herrscher über die Unterwelt, nur noch eine einzige Bedingung für ihre Rettung auferlegt. Eurydike musste auf dem ganzen Rückweg hinter ihm hergehen, und Orpheus war es verboten, sich umzudrehen.
Der Weg zurück hinauf zur Erdoberfläche war schwer. Eurydike musste ausgerutscht sein, oder sie hatte nur vor Erschöpfung aufgeseufzt. Jedenfalls konnte Orpheus nicht an sich halten, drehte sich um – und sah gerade noch, wie seine Geliebte wieder in der Unterwelt
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