Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
verschwand. Diesmal für immer. Und fortan wanderte der Sänger einsam durch die Welt – von allen verlassen, seine traurigen Lieder singend.
Diese Geschichte hatte immer wieder Theaterleute und Musiker inspiriert. Es gab viele Opern zu dem Thema, viele Lieder, sogar eine sinfonische Dichtung.
Mara konnte das verstehen. In der Orpheus-Geschichte ging es darum, mit Musik die Welt zu verändern.
Und zwar indem man zuerst die Psyche der Leute veränderte. Musik war dazu in der Lage. Sie spürte es selbst immer wieder, wenn sie auf ihrer Geige improvisierte – auf der Bühne oder nur für sich selbst. Man begann ganz einfach, mit einer Melodie, die man aufgeschnappt hatte oder die aus irgendeinem Urgrund im Bewusstsein auftauchte. Und dann musste man immer wieder dasselbe spielen, man musste Körper und Geist auf die Musik einstellen, und irgendwann – nach drei, dreißig oder sechzig Minuten oder auch nach zwei Stunden der Wiederholung dieses klingenden Mantras – war alles eins. Man befand sich im Zentrum von allem, und man betrachtete die Dinge aus diesem Zentrum heraus.
Wie sie dort im Wald saß und nachdachte, erschien auf dem Monitor ein Warnfenster. Der Akku des Computers ging zur Neige. Mara klappte das Gerät zu, wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und ging zurück zum Haus.
Gelbe Lampen beleuchteten den Parkplatz und das Gebäude, dessen Fenster vollkommen dunkel waren – mit Ausnahme der unteren Etage. Dort konnte sie Deborah im Wohnzimmer herumgehen sehen.
Erst jetzt wurde Mara klar, dass der Waldweg an der hinteren Seite des Wohnblocks vorbeiführte und dass man nur einen schmalen Streifen von Bäumen und Büschen durchqueren musste, um zur Terrasse zu gelangen. Deborah hatte die Terrassentür wieder geöffnet. Mara beschloss, diesen kurzen Weg zurück zum Haus zu nehmen.
Zwischen dem Wald und dem Gebäude lag ein Rasenstück. Kaum hatte Mara ihn betreten, hörte sie Deborahs Stimme. Und plötzlich kam ihre Gestalt, die kurz verschwunden war, wieder ins Sichtfeld. Sie telefonierte. Und Mara, die nun schon nahe am Haus war, konnte sie verstehen.
»Nein, sie weiß nichts …«
Mara durchfuhr ein heißer Schrecken. Ihr war sofort klar, dass Deborah von ihr sprach. Und da fiel auch schon ihr Name.
»Mara wird in meiner Obhut bleiben. Sie darf Sie nicht sehen. Halten Sie sich zurück.«
Wen durfte Mara nicht sehen?
»Sie würde Sie erkennen, wenn Sie noch mal auftauchen …«
Erkennen? Noch mal auftauchen?
Es gehörte zu den eigenartigen Begebenheiten der letzten Tage, dass sie gleich mehrere seltsame Begegnungen gehabt hatte. Der Mann im Keller des alten Gasthauses. Dieser E-Mail-Schreiber, der sich Orpheus nannte. Den sie allerdings noch nicht leibhaftig gesehen hatte. Oder doch? Ohne es zu wissen?
Noch jemand fiel Mara ein: der Mann mit den eng zusammenstehenden Augen, der sie verfolgt hatte. Den sie für einen Journalisten gehalten hatte. Den sie eigentlich immer noch dafür hielt. Der sich dann aber gar nicht wie ein Journalist verhalten hatte. Er hatte keine Fotos gemacht. Keine Fragen gestellt. Sie nur verfolgt.
»… sie kommt jeden Moment zurück. Ich kann jetzt nicht weitersprechen. Ich melde mich wieder.«
Deborah nahm das Telefon vom Ohr und wandte den Blick dem Fenster zu. Mara flüchtete ein Stück zur Seite, in die Richtung, in der sie den Parkplatz und den offiziellen Eingang des Hauses erreichen würde.
Sie verharrte kurz, blickte zurück. Sie musste wissen, ob Deborah sie gesehen hatte. Aber sie schloss nur die Tür und zog die Vorhänge zu. Jetzt lag der helle Schein der Wohnung hinter einem diffusen Schleier.
Maras Herz klopfte stark, als sie an der gläsernen Haustür ankam. Neben dem Eingang gab es eine Fläche mit Klingeln. Nirgendwo stand ein Name. Sie hatte keine Ahnung, wo sie drücken musste. Sie hätte noch einmal das Haus umrunden und an die Terrassentür klopfen können, doch dann hätte Deborah vielleicht geahnt, dass Mara sie belauscht haben könnte.
Sie drückte überall.
Kurz darauf ging im Flur Licht an. Deborahs Silhouette erschien in der geöffneten Wohnungstür.
»Ausflug beendet?« Mara entging nicht, dass Deborah sehr viel Freundlichkeit in ihre Stimme legte. Sie spielte die Mutter, die die heimkehrende Tochter aufnimmt und freudig in ihre Arme schließt. Allerdings unterließ sie körperliche Annäherungen. Mara hätte sie auch jetzt nicht ertragen.
Sie schob sich in die Wohnung.
»Und? Wo warst
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